Bitteres Rot
angsterfüllter Stimme.
Dria und Biscia schubsten Maestri ins Auto der Schwarzhemden, das mit laufendem Motor und eingeschalteten Scheinwerfern noch immer auf der Kreuzung stand. Lanza sammelte unterdessen die Waffen ein, steckte |197| sich die Pistole in den Gürtel und hängte sich das Gewehr über den Arm.
Grandi war in der Zwischenzeit zu Calcagnos Auto gelaufen, das sie eigentlich wieder nach Hause bringen sollte. Obwohl etwas Licht auf sein Gesicht fiel, bemerkten die anderen nicht, dass er feuchte Augen hatte. Er öffnete die Tür und erschrak: Calcagnos Antlitz glich einer blutigen Maske. Die Täter hatten ihm in die Schläfe geschossen. Einem Impuls folgend, streifte er ihm die Brille ab, deren Gläser zerbrochen waren. Sein Herz zog sich zusammen, als er an Calcagnos Mutter dachte, an ihren Schmerz, wenn er ihr die Brille geben würde. Er ließ sie in der Jackentasche verschwinden und strich Calcagno ein letztes Mal über die dunkelbraunen Locken, bevor er die Autotür wieder schloss.
Er ging zum Wagen der Schwarzhemden zurück. Lanza setzte sich ans Steuer, der Comandante neben ihn. Balletta kauerte sich auf den Boden. Auf dem Rücksitz hatten Dria und Biscia den totenbleichen Maestri zwischen sich gezwängt. Er schwieg.
Sie rasten in Richtung Westen. Da sie auf der Küstenstraße Kontrollen befürchteten, machten sie einen weiten Umweg durch die Hügel. Über den Corso Firenze und die Via Montegalletto hinauf nach Lagaccio und Granarolo, wieder hinunter nach Sampierdarena und schließlich zur Cava del Gazzo in Sestri, wo Maestri vernommen werden sollte.
|198| Es gibt keinen Bruder
Als ich das Krankenhaus verließ, kam ich mir vor wie ein unerwünschter Gast, den man in einem Luxusrestaurant hungrig vor die Tür gesetzt hat. Man könnte meinen, dass man in gewissen Situationen nur deshalb schlecht behandelt wird, weil man dreckig ist, stinkt und aussieht, als wäre die Kreditkarte gesperrt. Genauso fühlte ich mich, wie ein Penner, ein Zigeuner, ein illegaler Einwanderer, dem Hunger und Armut ins Gesicht geschrieben standen.
Es nieselte, eine bleigraue, schmierige Wolkendecke lag wie eine undurchdringliche Glocke über den Häusern von San Martino. Die feuchte, abgasverpestete Luft war zum Schneiden und das Atmen fiel schwer. Ich hatte eine schlimme Nacht gehabt, hatte mir den Kopf zermartert und alle möglichen Vermutungen angestellt, die aber sämtlich ins Leere liefen. Vielleicht würde Jasmine sterben und ich konnte nichts für sie tun. Die besten Freunde meines Vaters führten mich an der Nase herum, stellten mir eine Falle nach der anderen und taten alles, um meine Ermittlungen zu behindern.
Als ich zu Hause ankam, war ich völlig durchnässt. Ich zog mich aus und ging unter die Dusche, in der Hoffnung, so mein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Es musste gegen Mittag sein, wahrscheinlich Samstag, aber |199| dafür hätte ich meine Hand nicht ins Feuer legen wollen. Ich hatte keine Zeitung gekauft, ein schlechtes Zeichen für einen Menschen wie mich. Zum Kochen hatte ich auch keine Lust, der Kühlschrank war leer und in der Vorratskammer fand ich nur eine alte Schachtel Cracker. In den feuchten Bademantel gehüllt, legte ich mich aufs Sofa und knabberte einige Salzkekse. Sie waren weich und ranzig und schmeckten genau so, wie ich mich fühlte. Zum Glück war wenigstens die Flasche Lagavulin noch fast voll. Ich trank direkt aus der Flasche. Ich spürte das unwiderstehliche Verlangen, Olindo anzurufen und ihn zur Rede zu stellen. Warum hatte er mir diesen Unfug über Niclas Ehemann erzählt? Biscia, der blonde junge Mann, der Iolanda aus der Tabakfabrik hingerichtet hatte.
Einige Punkte waren jetzt immerhin klarer. Der Name Nicla war frei erfunden, doch der junge Mann hieß wirklich Biscia. Wenn ich nach ihm fragen würde, müsste sich in Sestri irgendjemand erinnern. Bestimmte Namen vergaß man nicht. Auch der Name Iolanda würde bestimmt Erinnerungen wachrufen.
Wie gerne wäre ich in die Vergangenheit zurückgereist, in die Zeit, als meine Eltern noch lebten. Ihnen hätte ich all diese Fragen stellen können. Mein Vater hätte bestimmt nur wenig gesagt, wie es seine Art war. Vielleicht wäre mein Großvater Baciccia das richtige Gegenüber gewesen. Meine Mutter wusste sicher nicht viel von diesen Geschichten. Ihre Erinnerungen an die Kriegszeit war mit Filmtiteln und den Namen von Schauspielerinnen verwoben, Alida Valli und Isa Miranda zum Beispiel, die sie vergöttert und nachgeahmt
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