Black Box: Thriller (German Edition)
loszureißen.
Die Seite hatte einen Bereich für Kommentare. Bosch klickte ihn an und stieß auf eine Flut von Einträgen, die 1996 , als die Website eingerichtet wurde, einsetzte und im Lauf der Zeit immer mehr versiegte, bis im vergangenen Jahr nur noch ein einziger einging. Eingerichtet hatte die Seite ihr Bruder, der sie auch betreute. Um seinen Kommentar auf Englisch lesen zu können, kopierte ihn Bosch in das von ihm benutzte Übersetzungsprogramm.
Anneke, auch die Zeit lässt uns nicht vergessen, was wir an dir verloren haben. Du fehlst uns als Schwester, Künstlerin und Freundin. Immer.
Unter dem Eindruck dieser Gefühle loggte sich Bosch aus und klappte seinen Laptop zu. Mehr gab es an diesem Abend nicht zu tun. Seine Bemühungen hatten ihn Anneke Jespersen zwar nähergebracht, ihm aber letztlich zu keinerlei Einsichten verholfen, weswegen sie ein Jahr nach Operation Desert Storm in die Vereinigten Staaten gereist war. Er war auf keinen einzigen Hinweis gestoßen, warum sie nach Los Angeles gekommen war. Es gab keine Reportage über Kriegsverbrechen, nichts, was weitere Recherchen, geschweige denn eine Reise nach Los Angeles gerechtfertigt erscheinen ließ. Woran Anneke Jespersen gearbeitet haben könnte, blieb ihm weiterhin verborgen.
Bosch sah auf die Uhr. Die Zeit war wie im Flug vergangen. Es war schon nach elf, und er musste am nächsten Morgen früh aus dem Bett. Die CD war zu Ende, und die Musik war verstummt, aber er hatte nicht mitbekommen, wann. Seine Tochter war mit ihrem Buch auf der Couch eingeschlafen, und er überlegte, ob er sie wecken sollte, damit sie ins Bett gehen konnte, oder ob er sie einfach mit einer Decke zudecken und weiterschlafen lassen sollte.
Er stand auf, und seine Oberschenkelmuskulatur protestierte, als er sich streckte. Er nahm den Pizzakarton vom Couchtisch und schlurfte damit in die Küche, wo er ihn auf den Mülleimer stellte, um ihn später nach draußen zu bringen. Er blickte auf den Karton hinab und machte sich wieder einmal stumme Vorhaltungen, dass er seine Arbeit über die vernünftige Ernährung seiner Tochter stellte.
Als er ins Wohnzimmer zurückkam, saß Madeline, immer noch halb im Schlaf, auf der Couch und gähnte.
»Schon ganz schön spät«, sagte er. »Zeit, ins Bett zu gehen.«
»Neieiein.«
»Komm schon, ich bringe dich in dein Zimmer.«
Sie stand auf und lehnte sich an ihn. Er legte den Arm um ihre Schultern und führte sie den Flur hinunter in ihr Zimmer. »Morgen früh musst du wieder allein aufstehen. Ist das okay für dich?«
»Klar, Dad. Du musst mich nicht jedes Mal fragen.«
»Ich habe um sieben eine Verabredung zum Frühstück, und dann …«
»Du musst es mir nicht groß erklären.«
An der Tür ließ er sie los. Er küsste sie auf den Scheitel und roch den Granatapfelduft ihres Shampoos.
»Doch, muss ich schon. Du hast jemanden verdient, der öfter zu Hause ist. Der mehr für dich da ist.«
»Dad, dafür bin ich viel zu müde. Über so was will ich jetzt nicht reden.«
Bosch deutete in Richtung Wohnzimmer.
»Wenn ich diese Nummer so spielen könnte wie er, wäre ich das. Dann wüsstest du es.«
Er trieb es auf die Spitze und kippte ihr seine Schuldgefühle über.
»Ich weiß es!«, stieß sie verärgert hervor. »Und jetzt gute Nacht.«
Sie ging in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
»Gute Nacht, Schatz«, sagte er.
Bosch ging in die Küche und trug den Pizzakarton zur Mülltonne hinaus. Wegen der Kojoten und anderer Nachtgeschöpfe vergewisserte er sich, dass der Deckel richtig zu war.
Bevor er wieder nach drinnen ging, schloss er das Vorhängeschloss an der Tür des Lagerraums hinter dem Carport auf. Er zog an der Schnur der Deckenlampe und ließ den Blick über die Regale wandern. Auf den staubigen Borden reihten sich Schachteln mit Dingen, die er fast sein ganzes Leben lang aufgehoben hatte. Er nahm eine Schachtel herunter und stellte sie auf die Werkbank. Dann griff er nach dem, was dahinter auf dem Bord lag.
Es war der weiße Schutzhelm, den er in der Nacht der Unruhen getragen hatte, in der er Anneke Jespersen begegnet war. Er betrachtete die schmutzige, zerkratzte Oberfläche und wischte mit der Handfläche den Staub von dem Aufkleber auf der Vorderseite. Die geflügelte Dienstmarke. Er studierte den Helm und dachte an die Nächte, in denen die Stadt aus den Fugen geraten war. Seitdem waren zwanzig Jahre vergangen. Er dachte an all diese Jahre, an all das, was zu ihm gekommen war, und an all das,
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