Black Box
überhaupt von keinem Zug mehr springen, außer er würde gerade bremsen oder ganz langsam fahren – das nächste Mal würde er sich vielleicht nicht nur den Fuß verknacksen. Killian nickte und fragte, ob er nicht doch etwas für sie tun könne. Sie antwortete, dass sie ihm gerade gesagt hätte, was er für sie tun könne.
Er wollte ihre Hand nehmen. Gage hätte ihre Hand genommen und ihr versprochen, für sie und ihren verstorbenen Mann zu beten. Wenn er ihr doch nur von Gage erzählen könnte! Er brachte es nicht über sich, ihre Hand in seine zu nehmen, er konnte nicht einmal den Arm heben. Oft war er von der Hilfsbereitschaft fremder Menschen – Menschen, die selbst fast nichts besaßen – so überwältigt, dass er befürchtete, sie könne in seinem Inneren etwas Empfindliches zerbrechen.
Als er schließlich in seinen neuen Kleidern über die Wiese zur Straße ging, blickte er noch einmal zum Haus zurück und sah die zwei Mädchen zwischen den Farnen stehen. Beide hatten sie verwelkte Blumen in der Hand und starrten zu Boden. Er blieb stehen und beobachtete sie, fragte sich, was sie da taten, was da zu ihren Füßen lag. In diesem Moment wandten sie den Kopf – erst das ältere Mädchen, dann das jüngere – und erwiderten seinen Blick.
Killian lächelte zaghaft und hinkte auf sie zu, wobei er durch die vom Tau feuchten Farnwedel stapfen musste. Gleich hinter den beiden Mädchen war ein schwarze Decke ausgebreitet, auf der ein drittes, noch jüngeres Mädchen lag. Sie trug ein weißes Kleid mit Spitzen an den Ärmeln. Die Hände hatte sie über einem Blumenstrauß gefaltet, der auf ihrer Brust lag. Die Augen waren geschlossen. Ihre Gesichtsmuskeln zitterten, offenbar versuchte sie, nicht zu lächeln. Sie war kaum älter als fünf. Um ihr blondes Haar wand sich ein Kranz aus getrockneten Gänseblümchen. Zu ihren Füßen lag ein Haufen verwelkter Blumen und neben ihr eine aufgeschlagene Bibel.
»Unsere Schwester Kate ist gestorben«, sagte die älteste der drei.
»Darum halten wir Totenwache«, fügte die Mittlere hinzu.
Kate lag reglos auf der schwarzen Decke. Noch immer hatte sie die Augen geschlossen, musste sich jedoch auf die Lippen beißen, um nicht zu grinsen.
»Wollen Sie mitspielen?«, fragte die mittlere Tochter. »Sie könnten sich hinlegen. Sie könnten der Tote sein, und wir streuen Blumen über Sie, lesen aus der Bibel vor und singen Näher, mein Gott, zu Dir. «
»Und ich werde weinen«, erklärte die Älteste. »Ich kann weinen, wann immer ich will.«
Killian betrachtete die Tote auf der Decke und dann die beiden Trauernden. Nach einer Weile sagte er: »Ich glaube nicht, dass mir das Spiel gefällt. Ich will kein Toter sein.«
Die älteste Tochter musterte ihn von oben bis unten. »Warum nicht?«, sagte sie dann. »Sie sind doch schon passend angezogen.«
Bobby Conroy kehrt von den Toten zurück
Zuerst erkannte Bobby sie gar nicht. Sie hatte ganz schön was abbekommen, wie er auch. Die ersten dreißig Leute waren schwer verwundet. Tom Savini höchstpersönlich hatte sie geschminkt.
Ihr Gesicht leuchtete in einem silbrigen Blau, und ihre Augen waren tief in ihre Höhlen gesunken. Da, wo ihr rechtes Ohr gewesen war, klaffte ein ausgefranstes Loch mit einem Stück rötlichen, feuchten Knochen in der Mitte. Sie saßen nur einen Meter voneinander entfernt auf der gemauerten Einfassung eines Springbrunnens, der abgestellt worden war. Sie balancierte ihre Seiten – drei zusammengeheftete Blätter – auf den Knien und schaute sie mit nachdenklich gerunzelter Stirn durch. Bobby hatte seine Seiten gelesen, während er in der Schlange auf die Maske gewartet hatte.
Ihre Jeans erinnerten ihn an Harriet Rutherford. Sie waren von Flicken übersät, die wie Taschentücher aussahen: rote und dunkelblaue Vierecke, die mit Paisleymustern bedruckt waren. Harriet hatte oft solche Jeans getragen. Bobby fuhr noch immer voll darauf ab, wenn ein Mädchen Flicken auf dem Hintern ihrer Levis hatte.
Sein Blick glitt ihre Beine hinunter bis zum weiten Schlag der Bluejeans und den nackten Füßen. Sie hatte ihre Sandalen abgestreift und rieb die Zehen aneinander. Als er das sah, spürte er einen bittersüßen Stich im Herzen.
»Harriet?«, sagte er. »Ist das die kleine Harriet Rutherford, der ich früher Liebesgedichte geschrieben habe?«
Sie sah ihn von der Seite an, und ohne auf ihre Antwort warten zu müssen, wusste er, dass sie es war. Sie musterte ihn eine ganze Weile, dann riss sie die Augen auf.
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