Black Box
über die Sofalehne gebeugt. Mein Vater hatte den Kopf in den Nacken gelegt. Ihr Mund lag auf seinem Mund. Meine Mutter griff an mir vorbei nach der Klinke und schloss die Tür.
Wir gingen durch die einbrechende Dämmerung zum Auto. Der Junge in dem weißen Nachthemd saß auf dem Rasen, das Fahrrad neben sich im Gras. Er hatte eine Geweihspitze in der Hand und häutete damit ein totes Kaninchen, dessen Bauch aufgeschlitzt war. Die Eingeweide des Tiers dampften. Als er zu uns hinüberschaute, grinste er. Seine Zähne waren blutrosa. Meine Mutter legte mir mütterlich den Arm um die Schultern.
Nachdem sie eingestiegen war, setzte sie die Maske ab und warf sie auf den Rücksitz. Ich behielt meine auf. Wenn ich tief einatmete, konnte ich meinen Vater riechen.
»Was ist los?«, sagte ich. »Kommt er nicht?«
»Nein«, sagte sie und ließ den Wagen an. »Er bleibt hier.«
»Und wie kommt er denn nach Hause?«
Sie wandte sich mir zu, sah mich an und lächelte mitfühlend. Draußen war der Himmel noch eher blau als schwarz, und die Wolken leuchteten glühend rot, aber im Auto war es bereits Nacht. Ich drehte mich um und kniete mich hin, damit ich sehen konnte, wie die Hütte hinter den Bäumen verschwand.
»Ich weiß ein neues Spiel«, sagte meine Mutter. »Wir tun so, als hättest du deinen Vater nie gekannt. Er ist fortgegangen, bevor du auf die Welt kamst. Wir können uns lustige kleine Geschichten über ihn ausdenken. Seit seiner Zeit bei den Marines hat er ›Semper fi‹ auf dem einen Arm tätowiert und auf dem anderen einen blauen Anker aus der Zeit, wo …« Sie geriet ins Stocken, weil ihr offenbar nichts mehr einfiel.
»Wo er auf einer Hochseebohrinsel gearbeitet hat.«
Sie lachte. »Sehr gut. Und wir tun so, als wäre die Straße verzaubert. Die Straße der verlorenen Erinnerungen. Bis wir zu Hause sind, glauben wir beide, dass die Geschichte wahr ist – dass er wirklich fortgegangen ist, bevor du auf die Welt kamst. Alles andere wird uns wie ein Traum vorkommen und die Träume wie Erinnerungen. Die erfundene Geschichte ist wahrscheinlich sowieso besser als die Wirklichkeit. Um’s mal so zu sagen: Er hat dich zwar mit Haut und Haar geliebt und hätte alles für dich gegeben, aber kannst du dich daran erinnern, dass er jemals irgendetwas Interessantes getan hat?«
Ich musste zugeben, dass ich das nicht konnte.
»Weißt du überhaupt noch, womit er sein Geld verdient hat?«
Auch das konnte ich nicht sagen. Versicherungen?
»Ist das nicht ein tolles Spiel?«, sagte sie. »Und wo wir gerade von Spielen reden – hast du dein Blatt noch?«
»Mein Blatt?« Dann fiel es mir wieder ein, und ich fuhr mit der Hand zu meiner Jackentasche.
»Das behalte mal lieber. Es ist wirklich ein gutes Blatt. Der ›Geizige König‹. Die ›Schlafende Dame‹. Du hast sie alle beieinander, mein Junge. Ich sag dir was – wenn wir nach Hause kommen, dann rufst du gleich diese Melinda an.« Sie lachte schon wieder und tätschelte sich den Bauch. »Vor uns liegen gute Zeiten, Kleiner. Vor uns beiden.«
Ich zuckte die Achseln.
»Du kannst jetzt die Maske abnehmen«, sagte meine Mutter. »Außer du trägst sie gern. Trägst du sie gern?«
Ich langte zur Sonnenblende hinauf, klappte sie nach unten und betrachtete mich im Spiegel – mein neues Gesicht aus Eis und das Menschengesicht darunter, entstellt und leer.
»Klar«, sagte ich. »Das bin ich.«
Die Geretteten
Jubal Scott und Drake Hough standen am Straßenrand und hielten ihre Schaufeln in der Hand, ohne sie zu benutzen. Es war kurz vor zwölf Uhr mittags, als Tierney, der Vorarbeiter, zu ihnen herüberkam.
»Scott«, sagte er zu Jubal. »Du machst dich jetzt lieber auf den Weg.«
»Ich hab doch gesagt, dass ich bis drei Uhr warte.«
Tierney deutete mit ausgestrecktem Finger auf die niedrige Wolkendecke. Der Himmel hatte die Farbe frisch umgegrabener Erde angenommen. Hier und dort schwebte bereits eine kleine runde Schneeflocke herab.
»Wenn das liegen bleibt, wirst du es noch bereuen, dass du gewartet hast. Geh schon. Wir sehen uns am Montag wieder.«
»He, John«, sagte Drake Hough. »Ich finde, ich könnte heute auch mal früher Schluss machen. Ich muss noch ein paar Sachen erledigen.«
»Das hättest du wohl gern. Ich geb dir was zu erledigen. Du kannst dir einen neuen Job suchen!«
Jubal Scott trug seine Schaufel zu seinem International hinüber, den er weiter unten an der Straße abgestellt hatte, und warf sie mit einem Klong auf die Ladefläche. Der
Weitere Kostenlose Bücher