Black Box
sie unheilbar krank waren. Die Nacht war hereingebrochen, und der Doktor war zu Besuch.
»Es tut mir leid«, sagte Rudi. »Ich …«
»Jetzt tut es dir leid. Aber dein Bedauern wird gleich noch weit stärker sein.«
Die Reitpeitsche schnellte mit einem lauten Knallen herab, und Rudi, der in zwei Wochen zehn Jahre alt sein würde, stieß einen lauten Schrei aus. Max knirschte mit den Zähnen und hatte die Hände immer noch in den Haaren vergraben. Er drückte sich die Handgelenke auf die Ohren, aber es war vergeblich, denn die Schreie waren ebenso wenig zu überhören wie die Peitsche, die auf Fleisch, Fett und Knochen einschlug.
Er hörte nicht, wie sein Vater die Küche betrat. Als ein Schatten auf ihn fiel, blickte er hoch. Abraham stand mit wirrem Haar und schiefem Kragen in der Tür zum Flur, die Reitpeitsche in der Hand. Max wartete auf den ersten Schlag, aber der blieb aus.
»Kümmere dich um deinen Bruder.«
Max stand schwankend auf. Er konnte dem Blick des Alten nicht standhalten, deshalb senkte er den Kopf, um stattdessen die Peitsche anzustarren. Der Handrücken seines Vaters war blutbefleckt. Max keuchte bestürzt.
»Schau nur, wozu du mich gezwungen hast.«
Max antwortete nicht. Möglicherweise wurde von ihm auch nichts anderes erwartet.
Sein Vater blieb noch für einen Moment stehen. Dann wandte er sich um und ging nach hinten in sein Arbeitszimmer, das er immer verschlossen hielt und das sie ohne seine Erlaubnis nicht betreten durften. Oft schlief er abends dort ein, und sie hörten ihn im Schlaf schreien und auf Holländisch fluchen.
»Bleib stehen«, schrie Max. »Ich hol dich eh ein.«
Rudolf rannte in langen Sätzen über die Koppel, packte den Zaun, schwang sich hinüber und spurtete lachend zum Haus hinüber.
»Gib ihn zurück«, rief Max, setzte über das Geländer und rannte weiter. Er war wütend, wirklich wütend. Sein Zorn verlieh ihm eine unerwartete Anmut – unerwartet, weil er denselben Körperbau hatte wie sein Vater, dessen Proportionen einem Wasserbüffel glichen, dem man gerade beigebracht hatte, auf den Hinterbeinen zu laufen.
Rudi dagegen war so zart gebaut wie ihre Mutter, und er hatte auch ihren blassen Teint. Er war schnell, aber Max holte trotzdem auf. Rudi schaute zu oft über die Schulter, anstatt sich darauf zu konzentrieren, wohin er rannte. Er hatte fast schon das Haus erreicht, doch dort konnte Max ihn in die Enge treiben und ihm ohne Schwierigkeiten von beiden Seiten den Weg abschneiden.
Aber Rudi wollte weder nach links noch nach rechts. Das Fenster zum Arbeitszimmer ihres Vaters stand eine Handbreit offen, und dahinter lag die dunkle Kühle seiner Bibliothek. Rudi streckte die Hände nach dem Fenstersims aus, und mit einem raschen Blick über die Schulter zog er sich in den Schatten hinauf, Max’ Brief immer noch in der Hand.
Ihr Vater wurde fuchsteufelswild, wenn sie erst nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause kamen, aber das war gar nichts im Vergleich zu dem, was er mit ihnen machen würde, sollte er herausfinden, dass sie sich Zutritt zu seinem Allerheiligsten verschafft hatten. Doch ihr Vater war nicht da, er war mit dem Ford weggefahren, und Max wollte gar nicht erst darüber nachdenken, was geschehen würde, wenn er unerwartet zurückkäme. Er sprang hoch und packte seinen Bruder am Fußgelenk – diesen kleinen Wurm würde er gleich wieder ans Tageslicht zurückzerren. Aber Rudi stieß einen Schrei aus und riss sich von Max los. Er fiel mit einem dumpfen Krachen in die Dunkelheit hinein, und irgendwo im Arbeitszimmer klirrte Glas gegen Glas. Dann hatte Max den Fenstersims gepackt, zog sich hoch …
»Mach langsam, Max, da geht’s …«, rief sein Bruder – und ließ sich durch das Fenster fallen.
»… tief runter«, schloss Rudi.
Natürlich war Max schon im Arbeitszimmer seines Vaters gewesen (manchmal rief Abraham sie für ein »Gespräch« zu sich, was bedeutete, dass er redete und sie zuhörten), aber er war noch nie durch das Fenster hineingeklettert. Er fiel vornüber, erhaschte einen Blick auf den Boden, der ein gutes Stück unter ihm lag, und begriff, dass er mit dem Kopf voraus aufschlagen würde. Am Rande seines Blickfelds sah er einen runden Tisch, direkt neben einem der Lehnstühle seines Vaters, und er streckte die Hand aus, um sich abzufangen. Aber er hatte zu viel Schwung und krachte auf den Boden. Im letzten Moment riss er den Kopf zur Seite, und der größte Teil seines Gewichts landete auf seiner rechten Schulter. Die
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