Black Mandel
von irgendwem ein Passwort erfragt, aber bei mir schien es nicht zu funktionieren. Ich kam lediglich auf eine Begrüßungsseite, auf der ich meine Studenten- ID eingeben sollte, aber ich war ja kein Student. Ich öffnete stattdessen ein Textdokument und speicherte es unter dark_reich_artikel ab . Außer die Schriftgröße festzulegen, fiel mir nichts weiter ein, also schaltete ich den Computer wieder aus und las in dem Buch, das ich mir im Vorfeld gekauft hatte. Nordische Mythen und die Verneinung der Welt von Name vergessen .
Ragnarök als Utopie
Warum konnten die alten nordischen Völker das Ende der Welt kaum erwarten? Die Chronisten reden fast leidenschaftlich von der Götterdämmerung, als stehe sie kurz bevor, als sehne man sie förmlich herbei. Was war die Voraussetzung für den Weltuntergang? Die Welt muss aus den Fugen geraten sein, die Stützen der Gesellschaft morsch, die Natur welk, und der moralische Verfall hat sich wie eine Krankheit ausgebreitet. Das Verhältnis zwischen Mensch und Natur ist zutiefst zerrüttet, es beginnt der Zerfall der Jahreszeiten, die Klimakatastrophe, wenn man so will. Niemand kümmert sich mehr um das Gemeinwohl, es ist die Lösung von allen ethischen Fesseln. Das ist die Zeit, in welcher der Fenriswolf durch Loki von seinen Ketten befreit wird und die alte Welt ihren letzten Gang antritt.
Irgendwo ertönte ein Alarm. Ich hörte auf zu lesen und öffnete die Tür zum Gang. Aus dem Inneren unseres Hochhauses kam der Alarm nicht. Ich öffnete das Fenster und schaute die dreizehn Stockwerke nach unten auf den Parkplatz, vielleicht kam er von einem der Autos. Es regnete noch immer, aber sonst war nichts Besonderes zu sehen. Der Alarm hörte so plötzlich auf, wie er losgegangen war.
In der Edda liest sich das so: Nach dem schändlichen Tod Baldurs altern die einst unsterblichen Asen plötzlich, und der Weltenbaum Yggdrasil stirbt ab, weil ihn die schöne Göttin Iduna nicht mehr mit ihrem lebenswichtigen Met versorgt. Die Natur kollabiert, und eine Eiszeit bricht an, eine Art nuklearer Winter. Die Riesen (als Vertreter der Naturgewalten) rüsten sich zur letzten Schlacht gegen ihre Unterdrücker, die gottgleichen Asen. Surtur, der Feuerriese, entfacht den Weltenbrand, der Fenriswolf verschlingt die Gestirne, und Dunkelheit überzieht das Land. Aus dem Meer steigt die Midgard-Schlange und speit ihr Gift in einer Sintflut. Doch das letzte Aufbäumen der Ordnungsmacht, die letzte Schlacht der Asen, ist vergebens. Loki und Heimdall töten sich im Kampf, der Donnergott Thor erliegt, trotz eines Sieges, dem Gift der sterbenden Midgard-Schlange, und auch der Kriegsgott Tyr und der Höllenhund Garm richten sich gegenseitig. Odin, der Allvater, wird vom Fenriswolf verschlungen, der kurze Zeit später von einem Sohn Odins getötet wird. Die Götter und die Riesen, die Ordnung und das Chaos neutralisieren sich gegenseitig. In einem gigantischen Systemabsturz erlöscht alles Leben auf der Erde, und die Sterne fallen vom Himmel.
Weltuntergang, das war das Spezialgebiet vom Mandel. Das hab ich ihn schon öfter sagen hören, dass es erst richtig scheppern muss, damit der Mensch sich zusammenreißt und seine Geltungssucht überwindet. Dazu müsste aller Voraussicht nach die Welt untergehen, hat er gesagt. Und er hätte von sich aus nichts dagegen, solange er noch ungefähr zehn Jahre Zeit hat, um essen zu gehen und ein paar Bücher zu lesen. Ende 2012 , wie in dem Maya-Kalender, wäre ihm zu früh.
Doch wer die Ökofabel von der Götterdämmerung nur auf der Einbahnstraße zum Weltenbrand befährt, ist auf der falschen Spur. Denn jetzt erst, nach Löschung aller bisherigen Systemeinstellungen, kann die Menschheit ein neues Kundenkonto eröffnen. Das goldene Zeitalter kann anbrechen, es erhebt sich eine neue Welt aus den Endzeitfluten, eine Welt ohne Ideologien und Religionen und ohne das schlechte Gewissen der Vorväter. Anders als die christliche Apokalypse steht Ragnarök somit als Utopie für eine neue Welt auf Erden statt eines abstrakten Himmelreiches. Nichts anderes als einen kompletten Neuanfang wünschen sich die alten Nordvölker.
Es war schon spät, als der Mandel zurück ins Zimmer kam. Ich war schon fast eingeschlafen und sah ihn noch mit seinem eigenen Laptop ins Internet gehen, war aber zu müde, um ihn zu fragen, wie er das machte. Außerdem wollte ich mich nicht in eine Diskussion verwickeln lassen, warum ich heute Nacht in dem echten Bett lag und er das Ausklappbett nehmen
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