Black Rose
aufzubringen?
Alice Brunelli rückte ihre dicke Ersatzbrille zurecht und
legte beide Hände auf die Richterbank. »Mrs. St. James, Sie haben soeben
gehört, was Ihr Anwalt gesagt hat. Entspricht das alles den Tatsachen? Hat er
Sie darüber aufgeklärt, dass Sie selbst das Recht haben zu entscheiden, ob Sie
aussagen wollen oder nicht, und dass niemand, nicht einmal Ihr Anwalt, Ihnen
diese Entscheidung abnehmen kann?«
»Mr. Morrison hat all das getan und mehr dazu. Er hat
mir alles erklärt. Ich weiß, dass ich nicht aussagen muss; ich weiß, dass
niemand mich dazu zwingen kann. Und, ja, er hat mir gesagt, dass die
Entscheidung, ob ich es tue oder nicht, ausschließlich bei mir liegt. Das hier
liegt alles in meiner alleinigen Verantwortung, Euer Ehren. Mr. Morrison
hat erst gestern, im Anschluss an die Verhandlung, erneut alles mit mir
durchgesprochen. Ich sagte ihm, ich würde seinem Rat folgen. Und vielleicht
sollte ich das auch, aber jetzt, wo ich die Entscheidung zu treffen habe,
jetzt, wo keine Zeit mehr ist, möchte ich die Wahrheit sagen, was auch immer geschieht.
Ich möchte, dass die Öffentlichkeit erfährt, was vorgefallen ist. Ich möchte
meinen Namen reinwaschen.«
Es gab keinerlei Veränderung in ihrem Ausdruck, nichts, was
auch nur auf den leisesten Zweifel oder so etwas wie Unsicherheit hingedeutet
hätte. Morrison erkannte, dass diese Entscheidung keine Eingebung des
Augenblicks war. Danielle hatte sich schon vor langer Zeit zur Aussage
entschlossen. Wenn sie nicht durch irgendeine Äußerung ihm gegenüber bezüglich
ihrer Absichten gelogen hatte, so hatte ihr Schweigen das für sie besorgt.
»Würden Sie sich gern ein paar Minuten mit Ihrer Mandantin beraten,
Mr. Morrison?«
Sich mit ihr beraten? Umbringen wollte er sie!
»Nein, Euer Ehren.« Er bemühte sich, das Beste aus der
Situation zu machen. »Wenn ich gewusst hätte, dass meine Mandantin aussagen
möchte, hätte ich sie aufgerufen. Ich entschuldige mich für die Verwirrung.«
Brunelli gab dem Gerichtsdiener mit der Hand ein Zeichen. »Bringen
Sie die Geschworenen wieder herein.«
Ihnen blieb eine Minute, vielleicht zwei. Morrison schob
seinen Stuhl dicht an Danielles heran. »Hast du eine Vorstellung davon, was du
tust? Ich habe den gesamten Prozess mit dem Versuch zugebracht, sie glauben zu
machen, dass er sich vielleicht selbst getötet hat, und jetzt willst du in den
Zeugenstand treten und ihnen erzählen, dass stattdessen du abgedrückt hast?
Wenn du in den Zeugenstand trittst, gibt es nichts, was ich zu deiner Rettung tun
kann. Noch ist es nicht zu spät. Ich brauche nur aufzustehen und zu sagen, dass
wir es am Ende doch nicht tun werden, dass die Verteidigung die Beweisaufnahme
abschließt. Um Gottes willen, denk darüber nach, was du tust! Dein Kind hat
keinen Vater mehr. Soll es auch keine Mutter haben?«
Sie hatte seinen Worten aufmerksam gelauscht und immer
wieder dazu genickt. Nun hörte das Kopfnicken auf. Ihre Augen wurden hart, kalt
und entschlossen. »Vertrau mir«, sagte sie mit einer Stimme, deren fast
herzlose Entschlossenheit ihn verblüffte. »Ich weiß, was ich tue.«
Er hatte keine Wahl, er musste sie aufrufen. Zum ersten Mal
in Morrisons Laufbahn hatte ein anderer die Verteidigung übernommen.
Aller Augen waren auf sie gerichtet, als sie aufstand und,
ohne zu zögern, schwor, die Wahrheit zu sagen. Falls sie nervös war, bemerkte
es niemand. Die Stille im Gerichtssaal war betäubend.
»Würden Sie bitte Ihren vollen Namen nennen und für die
Akten Ihren Nachnamen buchstabieren?«
»Danielle St. James«, erwiderte sie. Sie wandte sich an
Philip Conrad und buchstabierte langsam ihren Nachnamen. Ohne erkennbaren
Gesichtsausdruck stenographierte Conrad mit.
Morrison wusste nicht, was er sie fragen sollte. Er hatte
auch keine Vorstellung, was sie sagen würde. Ihm blieb nur eins: sie aufzufordern,
ihre Geschichte mit eigenen Worten zu erzählen. Er selbst würde zuhören wie
alle anderen auch. Zumindest beabsichtigte er das, doch dann geschah etwas, was
ihn selbst überraschte. Ob es der Anwalt in ihm war oder der in seiner
Eitelkeit verletzte Mann: Er stellte jetzt die Frage, die er gestellt hätte,
wenn er sie jemals für unschuldig gehalten hätte.
»Mrs. St. James, haben Sie Ihren Ehemann, Nelson St.
James, getötet oder nicht?«
In ihren Augen war Schmerz zu sehen und tiefes Bedauern.
Sie hatte ihn getötet, und jetzt würde sie erklären, wie es passiert war und
wie sehr es ihr leidtat.
»Nein,
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