Black Swan - Silberner Fluch
man ein kleines Stück des Sommerlands in dem grünen Schimmer am Ende eines baumbestandenen Weges sehen, sagte sie mir, oder in der Spiegelung eines Bergsees, ja, manchmal sogar in einer offenen Tür in einer Straße der Stadt, wo es zuvor gar keine Tür gegeben hatte und auch nur noch glatter Stein war, wenn man ein zweites Mal hinsah. Denn die Tür zum Sommerland öffnete sich nur beim ersten Blick und nie, wenn man genauer hinschaute. Suchen konnte man danach nicht, doch ganz unerwartet hineinschlüpfen. Und wenn man dann einen Tag auf der anderen Seite verbrachte und zurückkam, stellte man fest, dass zwanzig Jahre in dieser Welt vergangen und Freunde und Verwandte alle älter geworden waren, während man selbst ganz unverändert geblieben war.
»Ist das der Grund, weshalb du niemals älter zu werden scheinst?«, sagte mein Vater immer, wenn er hörte, wie sie mir die Geschichte erzählte.
Meine Mutter lachte nur, aber als ich klein war, glaubte ich fest daran, dass sie den Schlüssel zu dieser zauberhaften Welt besaß. Und ich war überzeugt: Wenn man den Formen zusah, die der Dampf an frühen Wintermorgen aufsteigen ließ, dann konnte man einen Blick darauf erhaschen – auf weißbrüstige Schwäne, die auf kristallenen Seen dahinschwammen, und auf verzauberte Reittiere, die aus schäumenden Wellen traten. An diesem Morgen jedoch erschienen mir die geisterhaften Gebilde, die sich im Schatten des Krankenhauses formierten, nicht wie die gutwilligen Gesandten eines Märchenreichs. So hatte ich noch nie auf die Dampfwolken reagiert. Ich fragte mich, ob sich über Nacht etwas in der Stadt verändert hatte – oder in mir.
»Miss James?« Die Stimme schreckte mich aus meinen düsteren Gedanken auf. Als ich mich umwandte, stand der Detective, der schon in unserem Stadthaus aufgetaucht war, am Ende von meines Vaters Bett. Ich hatte ihn nicht eintreten hören und fragte mich, ob er sich absichtlich angeschlichen hatte, aber dann tat ich diese Überlegung als albern ab. Der Mann war ein Detective der New Yorker Polizei und kein indianischer Kundschafter.
»Detective Joseph Kiernan, von der Abteilung Kunstverbrechen der New Yorker Polizei«, sagte er und reichte mir seine Visitenkarte. »Ich wollte Ihren Vater nicht aufwecken. Er braucht sicher Ruhe. Der Arzt sagte, sein Zustand sei stabil.«
»Aber er ist noch nicht wieder zu Bewusstsein gekommen«, wandte ich ein. »Ich glaube nicht, dass das ein gutes Zeichen ist.«
»Demnach hat er Ihnen noch nicht berichten können, was geschehen ist?«
»Nein, aber das ist doch wohl offensichtlich. Er hat die Einbrecher überrascht, und sie schossen ihn nieder.«
»Haben Sie gesehen, wie sie auf ihn geschossen haben?«
»Nein. Ich rannte hinter ihm die Treppe hinab. Als ich in die Küche kam, lag er schon am Boden.«
»Und hielt einer der Einbrecher eine Waffe in der Hand?«
»Nein, aber die könnte er doch fallen gelassen haben. Sie packten die Leinwände ein, die sie schon bis auf eine aus den Rahmen geschnitten hatten. Es schien, als ob sie schnell aus dem Haus kommen wollten, nachdem der Alarm ausgelöst worden war.«
»Ja, das ist eine weitere Sache, die mir ein wenig Kopfzerbrechen bereitet.« Der Detective warf seinen Trenchcoat auf das freie Bett und zog sich einen Stuhl heran, als wolle er es sich für eine längere Unterhaltung richtig gemütlich machen. »Der Tresoralarm wurde ausgelöst, die Alarmanlage an der Haustür jedoch nicht. Kannte irgendjemand außer Ihnen und Ihrem Vater den Code für die Vordertür?«
»Verschiedene Leute. Unsere Haushälterin, unsere Rezeptionistin … alles, was von Wert ist, schließen wir ja immer im Safe ein, und von daher …«
»Und wer kannte dessen Kombination?«
»Niemand außer meinem Vater und mir. Die Diebe müssen Sprengstoff verwendet haben …« Ich hielt inne und dachte an den Augenblick, als die Männer im Flur an mir vorübergegangen waren. Es war nichts, woran ich mich gern erinnerte, und es löste ein Gefühl aus, als ob mir etwas die Luft abschnürte. »Ich habe etwas gerochen, als sie an mir vorbeigingen. Schwefel … und irgendwie verbrannt .«
»Es gab keine Spuren einer Explosion«, sagte der Detective. »Entweder kannten sie die Kombination, oder …«
»Oder was?«, fauchte ich.
Er neigte den Kopf und lächelte. Auf eine jungenhafte, glatte Art sah er gut aus, wie ich mit der eigenwilligen Distanziertheit feststellte, die ich fühlte, seit ich meinen Vater angeschossen auf dem Küchenfußboden
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