Blackmail: Thriller (German Edition)
Erwachsenenleben als selbstständiger Anwalt begonnen. Danach wurde ich Staatsanwalt. Als ich dieses Leben nicht mehr ertragen konnte, fing ich an, darüber zu schreiben, anstatt es zu leben. Dieser Beruf hat mir immer Freude gemacht. Ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, ihn hinter mir zu lassen und einen weiteren, neuen Beruf auszuüben? Oder müsste ich das Schreiben vielleicht gar nicht aufgeben? Würde das Regieren dieser Stadt jede wache Stunde meiner Tage und Nächte erfordern? Natürlich würde es das, sagtmeine innere Stimme. Was du vorhast, ist nicht nur ein neuer Beruf. Es ist eine Mission, ein Kreuzzug, eine heilige Aufgabe – der Versuch, die Stadt zu retten, die dich hervorgebracht hat, sie aus der Betäubung zu erwecken, die von wirtschaftlicher Stagnation und hartnäckigem Rassismus herrührt. Niemand wird dir für deine Anstrengungen danken. Du wirst einen Preis bezahlen, und Caitlin zu verlieren ist vielleicht ein Teil davon. Der größte Witz von allen? Du verbringst jede Minute deiner Zeit, opferst all deine Energie und bewirkst absolut nichts.
Das Schlagen einer Wagentür reißt mich zurück in die Wirklichkeit. Unten in der Zurhellen Addition fahren endlich auch Jenny Townsend und Reverend Herrick davon. Für mich wird es ebenfalls Zeit, doch irgendetwas hält mich fest. Zum ersten Mal sind Kate und ich ganz allein. Ich wünschte, sie könnte zu mir sprechen. Wenn sie ihre letzten Minuten beschreiben könnte, würde das Leben von sehr vielen Leuten einfacher, und vielleicht würde sogar der Gerechtigkeit Genüge getan. Doch Kate kann nicht mehr reden, und in ihrer Stummheit wird sie zum Zentrum eines politischen Sturms werden, der nur dem Namen nach als Gerichtsprozess über die Stadt zieht.
Nach einem stillen Gebet für Kate eile ich den Hügel hinunter zu meinem Wagen und fahre vom Friedhof hinaus auf die Cemetery Road. Ein überladener Holzlaster kommt mir entgegen. Vergangene Woche noch hätte ich wahrscheinlich versucht, mich an ihm vorbeizudrücken, doch nach Chief Logans Geschichte von Fahrern, die den ganzen Tag im Führerhaus Bier trinken, weiche ich auf das Gras an der Friedhofsmauer aus und lasse den Laster passieren. Der Boden erzittert, als das schwere Gefährt an mir vorbeidonnert. Erst dann lenke ich auf die Straße zurück und fahre in Richtung Stadt.
Zu meiner Rechten schneidet der Mississippi unaufhaltsam durch den Kontinent und wälzt sich in Richtung Baton Rouge und New Orleans wie fleischgewordene Zeit. Als ich den steilen Hang des Jewish Hill zu meiner Linken hinter mir lasse, kommt der Drehengel in Sicht. Das ernste Gesicht sieht michnäher kommen, als würde es nur auf mich warten. Ich weiß, dass es nur so scheint, weiß, dass er eigentlich von der Straße und dem Fluss wegsieht. Dennoch fahre ich langsamer, als ich das Monument passiere, und versuche törichterweise, den Engel dabei zu erwischen, wie er sich dreht.
Ich schaffe es nicht.
Erst als ich vorbei bin und über die Schulter nach hinten blicke, sehe ich, wie das zeitlose Antlitz mir hinterherstarrt. Ich trete auf die Bremse, wende und halte neben der Friedhofsmauer. Der Drehengel versucht mir etwas zu sagen. Nicht mit Worten, aber er hat eine Botschaft für mich. Was? Was um alles in der Welt will der marmorne Engel mir sagen? Was du siehst, ist nicht immer die Wirklichkeit. Wir sehen auf eine Sache, erkennen jedoch eine andere. Warum? Bei der Marmorstatue wegen eines Wechsels der Perspektive und der Beleuchtung. Bei menschlichen Wesen hingegen sind die Gründe komplizierter. Die Leute geben nur das von sich preis, was sie andere sehen lassen wollen, oder zumindest versuchen sie es. Und selbst wenn unbeabsichtigte Hinweise auf das Wesen hinter der Maske erkennbar sind, weigern wir uns häufig, sie zu sehen. Unsere Wahrnehmung anderer ist stets verzerrt von unseren eigenen Vorurteilen, Hoffnungen und Ängsten. Und manchmal ist es genauso, wie Quentin Avery gesagt hat: Wir blicken einen anderen an und sehen uns selbst.
»Schein kontra Wirklichkeit«, sage ich leise. Es klingt wie der Titel eines Aufsatzes, den ich für den Englischunterricht in der Highschool schreiben musste.
Während ich über die Grabsteine hinweg auf die androgynen Züge des Engels starre, erscheinen geisterhafte Gesichter auf dem weißen Marmor, die ineinander zerfließen wie in dem klassischen Videoclip von Sinead O’Connor. Zuerst Mia. Der Engel ähnelt ihr am stärksten mit dem ovalen Antlitz und der madonnenhaften Gelassenheit.
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