Blackmail: Thriller (German Edition)
dass jeder Teenager von Natchez irgendwann im Dunkeln die Straße entlangfährt, um zu sehen, wie der Engel sich dreht, und es ist eine Art Übergangsritus für sämtliche Kinder der Stadt geworden.
Das verblasste grüne Zelt im Zentrum der Trauergäste trägt die Aufschrift »McDonough’s Funeral Home«, und es ist der zentrale Bestandteil so gut wie jeder weißen Beerdigung in der Stadt, solange ich mich zurückerinnern kann. Die Menge drängt sich so dicht um das Zelt, dass ich keine Chance habe, jemanden zu fotografieren. Mir bleibt nur eine Möglichkeit, nämlich nach unten zu gehen und mich zu den Gästen zu gesellen.
Eine Betontreppe führt vom Jewish Hill hinunter zum ebenen Bereich der Zurhellen Addition. Auf dem Weg nach unten höre ich die Klänge einer akustischen Gitarre. Dann ertönt eine junge männliche Stimme solo über die Köpfe der Trauernden hinweg, brüchig vor Trauer und zugleich voller Trotz. »It’s something unpredictable, but in the end it’s right. I hope you had the time of your life.«
Ich nehme an, Kate Townsend war ein Fan von Green Day.
Ganz langsam bahne ich mir einen Weg durch die Trauergäste und nicke denen zu, die mich dabei anschauen. Diemeisten Leute kenne ich, doch einige sind fremd. Als ich mich dem Zelt nähere, geht es nicht mehr weiter, so nahe beieinander stehen die Leute. Dank meiner Größe kann ich trotzdem alles sehen.
Jenny Townsend sitzt zusammen mit ihrem Exmann, dem Engländer, unter dem Zeltdach. Reverend Herrick leitet die Zeremonie. Sie ist traditioneller als die Rede, die er in der Sporthalle der St. Stephen’s gehalten hat. Es gibt noch mehr Menschen unter dem Zelt, doch sie interessieren mich nicht. Mich interessieren die anderen, die hier draußen vor dem Zelt stehen. Ich entdecke die meisten Mitglieder des Schulbeirats, mit Holden Smith an der Spitze. Jan Chancellor trägt einen seidenen Hosenanzug. Steve Sayers steht zu meiner Rechten in vorderster Reihe, ein Auge blau und geschwollen. Nicht weit von ihm steht Mia Burke mit ihrer Mutter, einer Beraterin der größten Anwaltskanzlei in der Stadt. Zu meinem Erstaunen trägt Mia ein schwarzes Kleid und Make-up. Mit dem schwarzen Haar, das zu einem Knoten hochgesteckt ist, sieht sie aus wie fünfundzwanzig. Sie bemerkt meinen Blick und würdigt mich eines züchtigen Lächelns. Coach Wade Anders steht mit dem Rücken zu mir, doch ich erkenne seinen Hinterkopf und seine Schultern, selbst in einem Anzug. Ich muss zweimal hinsehen, doch auf der anderen Seite des Zelts steht tatsächlich Ellen Elliott. Wahrscheinlich glaubt sie der Stadt zeigen zu müssen, dass sie genauso sehr um Kate trauert wie jeder andere, trotz alldem Schrecklichen, das ihr zukünftiger Exmann dem Mädchen möglicherweise angetan hat.
Während Reverend Herrick predigt, drehe ich den Kopf und suche die Grabsteine auf dem Jewish Hill ab, dann die Mausoleen auf dem Hügel hinter dem Gebäude der Friedhofsverwaltung. Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass noch jemand das Begräbnis beobachtet, aber wer? Cyrus White vielleicht? Marko Bakic? Oder ist Drew vielleicht hergekommen? Er wird alles versucht haben, um dabei zu sein, wenn seine Geliebte ins Grab gesenkt wird. Wie schwer kann es für ihn schon sein,durch den Zaun auf der Rückseite des Stadtgefängnisses zu schlüpfen und herzukommen? Gefangene, die nicht halb so stark oder intelligent waren wie er, haben das geschafft. Doch ich entdecke niemanden, der sich zwischen den Steinen versteckt. Was natürlich nicht bedeutet, dass niemand dort ist.
Reverend Herrick gedenkt einmal mehr der Toten. Ich blicke mich um, und Erinnerungen an diesen Friedhof steigen in mir auf: wie ich mich als Zwölfjähriger zusammen mit meinen Freunden hineingeschlichen habe, um auf unseren Bonanza-Rädern wie die Wahnsinnigen über die schmalen Wege zu jagen, oder wie ich mitten in der größten Sommerhitze mit einem hübschen Mädchen zwischen den Steinen hindurch spazieren gegangen bin und wie wir im Gras unter einer Mauer gelegen haben, um einander zu erkunden, und wie ich auf dem Jewish Hill in tiefster Nacht die Liebe meines Lebens gefunden habe … Zwanzig Jahre später habe ich sie schon wieder verloren und stehe hier in der Hoffnung, die geheime Wahrheit hinter all unseren Toten zu entdecken.
»Verzeihung.«
Eine mir unbekannte Frau schiebt sich an mir vorüber. Die Menge löst sich auf. Wagen werden auf den Zufahrten angelassen und brummen leise im Leerlauf, während sich Gestalten in Schwarz
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