Blackmail: Thriller (German Edition)
weh zu tun.«
Ich kämpfe verzweifelt gegen meine natürlichen Instinkte und lege mich auf meinen Schlafsack. Blue presst meinen Oberarm zusammen, um die Vene hervortreten zu lassen. Erneut spüre ich keinerlei Schmerz, als Cyrus die Nadel einführt. Als Test fange ich langsam an zu zählen. Als ich bei sieben angekommen bin, fängt es an. Erneut geht es in meinem Bauch los und breitet sich von dort nach außen in die Gliedmaßen aus. Eine Hitze ähnlich der, die man beim Eindringen in eine Frau verspürt, umhüllt meinen gesamten Körper.
»Ist es gut?«, fragt Blue. »Wie fühlst du dich?«
»Wie eine Qualle«, murmele ich. »Aber ich bin Teil vom Wasser.«
»Die meisten Leute sagen, es fühlt sich an wie in Mamas Bauch.«
Ich nicke schwach. »Kann sein … kann mich nicht erinnern.«
Blue kichert wie ein kleiner Junge.
»Ich weiß einen anderen Weg, in Mamas Bauch zu kommen«, sagt Cyrus. »Stimmt’s, Blue?«
»Ja, klar. Den besten, den es gibt.«
»Vielleicht kann ich mich ja doch erinnern«, denke ich laut. »In der Zeit zurückgehen, wisst ihr?«
»Nein«, intoniert Cyrus. »So funktioniert das nicht.« Er kniet neben meinem Schlafsack nieder und hebt mein erschlaffendes Kinn, bis ich in seine tiefschwarzen Augen blicke. »Lass dir von mir was über die Zeit sagen, Bruder. Ich hab was über diesen Scheiß gelesen. Die Leute sagen, die Zeit wäre wie ein Fluss. Das ist Quatsch. In einem Fluss kann man rauf und runter schwimmen. Kannst du das in der Zeit etwa auch? Verdammt, nein. Die Zeit ist kein Fluss. Die Zeit ist eine gigantische Rasierklinge, die durch das Universum zischt. Und die Spitze von dieser Klinge ist das Jetzt. Kapiert? Das ist alles, was es gibt, Mann. Kein Stromabwärts oder Stromaufwärts, keine Vergangenheit oder Zukunft – nur das Jetzt. All das Zeug, was wir fühlen, wie Hoffnung und Traurigkeit wegen irgendwas, das ist nichts. Nutzlos. Nichts zählt auf der Welt außer dem Jetzt.«
»Ich … ich verstehe die Metapher«, bringe ich mühsam hervor. »Aber die Dinge, die wir in diesem Jetzt tun, können unser Leben in einem späteren Jetzt verändern, verstehen Sie? Das ist der Grund … der Grund, warum das, was wir tun, wichtig ist.«
Cyrus starrt mich an, während er über meiner Logik grübelt. Dann schüttelt er den Kopf. »Du kapierst nicht, was ich meine, Kumpel. Das liegt wahrscheinlich daran, dass du auf dem Trip bist. Der Stoff ist das Einzige, was das Jetzt wegnehmen kann. Der Stoff lässt es verschwimmen, sozusagen. Macht es zudieser großen warmen Decke. Deswegen bringen Leute andere Leute um, um den Stoff zu kriegen.«
»Nein«, flüstere ich, doch mein klarer Verstand schwindet rasch. »Dieser Stoff ist das Jetzt. Er nimmt die Vergangenheit und die Zukunft. Nur Stoff kann das.«
Cyrus lacht. »Oh ja. Du bist schon verdammt gut drauf, Kumpel.«
»Bin ich?«, frage ich und frage mich zugleich, ob ich überhaupt ein Wort hervorbringe.
Cyrus erhebt sich. »Schlaf gut, Bruder. Genieß deinen Trip.«
Er geht zur Tür, doch bevor er sie geöffnet hat, klappen meine Lider herunter, und ich kuschle mich zusammen unter der behaglichen warmen Decke, die das Heroin über meine Seele geworfen hat.
Cyrus hatte recht, was mein Zeitempfinden anging. Bald hatte ich kein Gefühl mehr für Tag oder Nacht, wusste nicht mehr, ob fünf Minuten vergangen waren oder fünf Stunden. Das Heroin kam und ging wie die Gezeiten, und mein Bewusstsein schwand und erwachte, schwand und erwachte. Leute kamen und gingen, doch ich schenkte ihnen kaum Beachtung. Ein älterer Schwarzer in Uniform. Ein weißes Mädchen. Jaderious Huntley. Ein Teenager. Und immer wieder Blue, der mir mein Heroin so liebevoll verabreichte wie eine besorgte Krankenschwester.
Blue war mein Engel.
Und Heroin war eine göttliche Erscheinung.
Plötzlich ergaben all die zusammenhanglosen Bilder, die ich nie verstanden hatte, einen Sinn: die Generationen von Engländern, die alles aufgegeben hatten, um sich in Opiumhöhlen in Indien niederzulegen; die abgerissenen Junkies im Houston Court System, die schottischen Spinner in Trainspotting, Tuesday Weld in Dog Soldiers, selbst Frank Sinatra beim Fixen in Der Mann mit dem Goldenen Arm, damals, als mein Vater ein junger Mann gewesen war. Das war der Grund, warum dieseLeute machten, was sie machten. Das war es, wo sie hinterher waren. Du gehst durch dein ganzes Leben, ohne es zu begreifen. Du kennst Leute, die es tun – die sogar besessen sind davon –, doch du
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