Blackmail: Thriller (German Edition)
Büroklammer, bog sie gerade und wickelte den Draht dann um beide Stifte des Elektrosteckers, der zum Gitterventilator hinten im Klassenzimmer führte. Dann schloss er die Augen und rammte den Stecker in die Dose. Blaue Funken sprühten, und dann gingen überall in der St. Stephen’s die Lichter aus.
Wenn ich Glück habe, tut Cyrus das Gleiche für mich.
Ich habe elf Stunden damit verbracht, über alles nachzugrübeln, was möglicherweise schieflaufen kann. Wasserstoff ist unsichtbar, wie ich vor langer Zeit auf den Warnschildern von Triton Battery gelesen habe. Wenn Cyrus zu lange wegbleibt, erreicht das Gas eine tödliche Konzentration, und ich ersticke hier drin. Aus diesem Grund kann ich es mir nicht leisteneinzuschlafen. Dann ist da die Briefklammer. Ich habe eine ganze Schachtel davon in einer der Schubladen gefunden. Sie sahen aus, als wären sie aus Metall, aber was, wenn sie aus irgendeinem nicht leitenden Material bestehen? Ein Forschungslabor könnte so etwas benutzen.
Dann ist da natürlich noch Cyrus selbst: ein beispiellos unberechenbarer Faktor in jeder Gleichung. Sobald ich höre, wie er den Schlüssel im Schloss dreht und die Bolzen entriegelt, muss ich aufspringen und den Gummipfropfen aus dem Loch in der Specksteinplatte ziehen. Auf diese Weise kann der angesammelte Wasserstoff durch das Loch entweichen. Doch um das Gas zu entzünden, muss Cyrus den präparierten Stecker des Fernsehers in die Dose über der Arbeitsfläche einstöpseln. Was, wenn er misstrauisch wird, weil der Stecker nicht mehr in der Steckdose ist? Was, wenn er mich nur flüchtig untersucht und dann wieder geht, wie er es bereits mehrmals getan hat? Was, wenn, was, wenn, was, wenn …
Das Warten bringt mich um. Buchstäblich.
Die Zeit ist eine gigantische Rasierklinge, die durch das Universum zischt, hat Cyrus gesagt. Keine Vergangenheit oder Zukunft, nur das Jetzt. Vielleicht hat er recht – ich glaube, ich habe sogar irgendwo einmal etwas in dieser Richtung gelesen. Doch im Augenblick habe ich das Gefühl, dass er sich irrt. Die Zeit ist ein Fluss, und ich kann mühelos darin zurückschwimmen, wie es mir beliebt. Manchmal, selbst wenn ich nicht an die Vergangenheit denken will, schlägt sie über mir zusammen, eine flüssige Wand aus Erinnerungen und Emotionen, die alles beiseiteschwemmt, das sich ihr in den Weg stellt. Mit trockenem Mund, juckenden Gliedmaßen und schmerzenden Muskeln auf meinem Schlafsack liegend, versuche ich mühsam, mich nicht von Traurigkeit überwältigen zu lassen, während mir Bilder meiner Frau durch den Kopf gehen, bevor der Krebs sie geholt hat. Ich sehe, wie sie Annie gebiert, wie sie vor Schmerzen schreit und schließlich erschöpft lächelt. Sarah lebt nicht mehr, doch Annie ist noch da. Eine Weile frage ichmich, ob Sarah mir deswegen erschienen ist, weil ich bald zu ihr gehen werde. Das ist nichts als Angst, sage ich mir. Denk an Annie. Annie lebt noch. Annie braucht dich noch …
Während ich mir dieses Mantra wieder und wieder vorsage, entsteht eine neue Emotion in mir – eigenartigerweise zum ersten Mal. Es ist Hass. Kein allgemeiner Hass, sondern ein höchst spezifischer, der sich gegen einen einzigen Mann richtet: Cyrus White. Wegen Cyrus liege ich hier in einem abgesperrten Labor und treibe langsam, aber stetig dem Tod entgegen. Wegen Cyrus muss meine Tochter möglicherweise ohne ihren Vater aufwachsen. Und sie musste schon viel zu lange ohne ihre Mutter auskommen.
Bis zu diesem Augenblick habe ich Cyrus immer wieder entschuldigt. Er hat mich nicht gefoltert, wie er es angeblich bei anderen getan hat, und er hat mir versprochen, mich am Leben zu lassen. Ist Cyrus von sich aus so geworden? Nein, haben meine Schuldgefühle immer wieder gesagt. Cyrus ist ein Produkt dieser Stadt, der Stadt, die wir erschaffen haben. Doch jetzt und hier, am Boden auf meinem Schlafsack, weise ich diesen Gedanken von mir. Cyrus hatte Möglichkeiten. Mehr Möglichkeiten als viele Leute, die weniger Glück hatten als er. Er hat die Stadt hinter sich gelassen. Er war beim Militär. Und doch ließ er die Chance ungenutzt, sich über seine Benachteiligungen hinaus zu entwickeln, und zog das Böse dem Guten vor. Nicht nur einmal, sondern wieder und immer wieder. Bilder der Toten und Verwundeten erfüllen meine Gedanken. Kate Townsend. Sonny Cross. Chris Vogel. Der katholische Junge im Krankenhaus, Mike Pinella. Paul und Janet Wilson. Cyrus mag nicht für alle direkt verantwortlich sein, doch er ernährt
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