Blackmail: Thriller (German Edition)
siebzig Meter voraus, halb verborgen hinter gewaltigen Eichen und Magnolien. Es sieht aus wie ein riesiges Schiff, das in einem Meer von Bäumen ankert.
Wohin bringt Marko Mia? Nach draußen? Wenn er sie nach draußen gebracht hätte, wäre das Signal immer noch stark. Und wenn er nach draußen gekommen wäre, hätte Kelly ihn längst festgenagelt. Also ist er nicht nach draußen gegangen. Wohin ist er? Hat er Mias Handtasche in einen Schrank geworfen? In ein Loch vielleicht? Hätte er das getan, wäre das Signal einfach ausgefallen und nicht nach und nach schwächer geworden. Kann es sein, dass Ardenwood ein Untergeschoss hat? Die meisten Vorbürgerkriegshäuser haben keinen Keller, höchstens halb in den Boden eingelassene »Milchkammern«, in denen Molkereiprodukte kühl aufbewahrt wurden. Aber das waren kleine Kammern, keine richtigen Keller …
Ich bin noch vierzig Meter von Ardenwood entfernt, und vor mir ist alles unverändert. Es ist, als wären Kelly und Logan diesen Hang hinauf gegangen und im Erdboden versunken.
Mein Funkgerät erwacht knackend zum Leben.
»Ich hab das Mädchen gefunden«, sagt Logan mit vor Erregung erstickter Stimme. »Sie ist verletzt. Sie wurde in den Hals getroffen. Es ist Schrapnell oder Schrot.«
Ich kann kaum sprechen. »Ist es Mia?«
»Kann ich nicht sagen. Sie ist voller Blut. Ich brauche Licht … verdammt!«
»Lebt sie noch, Don?«
»Sie atmet. Ich glaube nicht, dass sie reden kann. Mein Gott, das war eine unglaublich dämliche Aktion!«
»Haben Sie Kelly gesehen?«
»Nichts. Ich habe Verstärkung angefordert. Auch einen Krankenwagen.«
Ich gehe schneller – meine Beine halten kein Laufen aus. Mein Herz hämmert wie eine Kesselpauke, und meine Kiefer sind so verkrampft, dass die Zähne schmerzen. »Bitte, lass es nicht Mia sein«, bete ich heiser. »Bitte, lieber Gott, lass es nicht Mia sein.« Ich peitsche meine Beine zu noch größerer Geschwindigkeit, versuche, das Haus zu erreichen, doch ich vermag mein Gleichgewicht nicht zu halten. Ich kippe vornüber, gehe zu Boden, rappele mich wieder hoch und fühle mich so erledigt, dass ich kaum stehen kann.
»Es ist nicht Mia«, knackt Logans Stimme aus dem Walkie-Talkie. »Es ist das Reynolds-Mädchen. Sie verblutet, Penn. Was soll ich tun?«
»Es ist nicht Mia?«
»Nein. Das Mädchen hat einen von diesen dämlichen Ringen in der Nase. Mia ist immer noch irgendwo im Haus.«
Erleichterung durchflutet mich. »Wo sind die Wunden?«
»Hauptsächlich am Hals.«
»Direkter Druck, Don. Versuchen Sie, das Blut in ihr zu halten.«
Langsam richte ich mich auf und blicke zum Haus. Sie sind nicht da drin, sagt mir eine innere Stimme. Sie sind weg.
»Haben Sie Motorgeräusche gehört, Don?«
»Nein.«
Dann trifft mich die Erkenntnis. Es ist kein Keller. Es ist ein Tunnel!
Ich wende mich nach links und entferne mich vom Haus, den Hügel hinunter zu dem niedrigeren Gelände auf der Nordseite von Ardenwood. Als der Bürgerkrieg sich gegen die Konföderation wendete, erkannten viele Plantagenbesitzer, dass die Armeen des Nordens irgendwann nach Süden und auf ihre Ländereien kommen würden. Einige Plantagenbesitzer hatten nur wenige Tage, um sich vorzubereiten, doch andere –hauptsächlich die am weitesten südlich – hatten Monate und sogar Jahre. Ein Tunnel konnte dazu benutzt werden, wertvolle Dinge zu lagern, und im äußersten Notfall bedeutete er einen Fluchtweg vor marodierenden Soldaten oder auch vor mit den Yankees sympathisierenden Nachbarn, eine reale Gefahr für viele Plantagenbesitzer in Natchez.
Ich habe Ardenwood nie eingehend besichtigt, doch ich weiß so sicher wie ich meinen Namen weiß, dass das Herrenhaus über einen Fluchttunnel verfügt.
Marko Bakic weiß es ebenfalls.
Bergab fällt mir das Gehen sehr viel leichter als den Hang hinauf. In weniger als einer Minute habe ich den Gürtel aus Kudzu-Pflanzen erreicht, der das Bayou auf der Nordseite von Ardenwood säumt. Der Geruch von organischer Verwesung mischt sich mit dem Gestank toter Fische und fauligen Schlamms. Es ist ein vertrauter Geruch. Ganz Natchez wird durchzogen von Creeks und Bayous, und ich habe sie als Junge allesamt erforscht. Der Plantagenbesitzer, der Ardenwood gebaut hat, kannte sie ebenfalls – zumindest dieses hier. Und als er beschloss, seinen Fluchttunnel zu bauen, in welche Richtung hat er seinen Sklaven wohl zu graben befohlen?
Nach Norden.
In jede andere Richtung hätten sie nicht nur horizontal, sondern auch vertikal
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