Blackout - Kein Entrinnen
Schritt auf uns zu, doch Mahir packte sie am Arm und hielt sie zurück. Das bekam ich allerdings kaum mit, denn ich war zu sehr damit beschäftigt, dem Mann vor mir in die Augen zu blicken, in die Augen, nach denen ich mich seit meinem Erwachen gesehnt hatte. Sie blickten mich mit einem solchen Zorn an. Zwar hatte ich diesen Ausdruck bei ihm schon erlebt, aber nie zuvor hatte er mich so angesehen.
»Wer bist du?«, fragte er mit tiefer Stimme. Der Schmerz darin tat beinahe genauso weh wie der Zorn in seinem Blick. Mein armer, armer Shaun …
»Ich bin Georgia«, flüsterte ich. »Ich bin niemand anders, und das bedeutet, dass ich sie bin.«
Er wirkte älter, als hätte er mehr als nur ein Jahr ohne mich durchgemacht. Sein Blick glitt über mein Gesicht und blieb schließlich am Haaransatz hängen. »Warum hast du dir die Haare nicht gefärbt?«, fragte er.
»Die Ärzte, die für mich verantwortlich waren, haben mich nicht gelassen. Sonst hätte ich es getan.« Ich hätte mir auch retinales KA verpasst, nur um mich in der eigenen Haut nicht so fremd zu fühlen. Ich hätte so manches getan.
»Kannst du beweisen, dass du bist, wer du zu sein behauptest?« Er ließ meine Schultern nicht los. »Gibt es etwas, irgendetwas, das du tun kannst, damit ich an dich glaube?«
Er wollte es glauben. Das sah ich in seinen Augen, denn unter dem Schmerz verbarg sich eine tiefe Sehnsucht. Das war der Grund, weshalb er es nicht übers Herz brachte. Es gibt keine Wunder, und wenn sich die Toten erheben, dann schauen sie dir nicht in die Augen und sagen ihren Namen. Vielleicht in einer anderen Welt, aber nicht in dieser.
Ich holte langsam Luft und warf noch einmal einen Blick zu Becks und Mahir. Dann wandte ich mich wieder ihm zu. »Es gibt nur eine Sache, die wir nie aufgeschrieben haben. Du weißt, was es ist.«
»Und du?«
»Ich weiß es, aber, Shaun, ich weiß nicht, ob …«
»Beweise es. Oder ich knalle dich hier und jetzt ab, das schwöre ich dir.«
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich dich vermisst habe«, sagte ich, beugte mich vor und küsste ihn. Seine Hände verkrampften sich auf meinen Schultern, ich spürte, wie sich sein ganzer Leib verhärtete, als er begriff, was ich tat.
Und dann erwiderte er den Kuss.
Das war das Einzige, worüber wir niemals geschrieben haben – worüber wir niemals schreiben konnten, denn keine Datei und kein Server ist jemals vollkommen sicher, und irgendwann wäre es nach außen gedrungen. Und dann hätte es niemanden interessiert, dass wir nicht biologisch miteinander verwandt sind oder dass wir mit sechzehn einen Gentest haben machen lassen, um absolut sicher zu sein. Niemanden würde es interessieren, dass wir keinem anderen Menschen so sehr vertrauten, dass wir ihn neben uns duldeten, wenn wir schliefen. Nein. Die Medien liebten Skandale, und in den Augen der Öffentlichkeit waren wir als Geschwister aufgewachsen. Unsere Quoten wären zerstört gewesen, und anschließend hätten uns die Masons zerstört, weil wir den guten Namen der Familie befleckt hatten.
Nur wenige hatten es im Lauf der Jahre erraten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Buffy es wusste. Aber wir haben nie, nie darüber geschrieben.
Er drückte meine Schultern so fest, dass es wehtat. Ich wehrte mich nicht, und nach ein paar Sekunden entspannten sich seine Hände. Er zog mich zu sich heran und küsste mich mit einem beängstigenden Verlangen. Ich fasste seine Ellbogen und zog ihn noch näher an mich heran, bis wir so dicht beieinanderstanden, dass nichts mehr zwischen uns Platz hatte. Nicht einmal der Tod. Wir waren zu Hause.
Ich zog mich erst zurück, als meine Lungen brannten. Er ließ seine Hände fallen, öffnete die Augen und starrte mich an, und ich erwiderte den Blick. Langsam hob er eine Hand und strich mir zitternd den Pony aus der Stirn.
»Georgia?«, flüsterte er.
Ich nickte.
»Wie …?«
Mahir räusperte sich. »So unglaublich das ist – und glaubt mir, ich finde das wirklich unglaublich –, dies ist vielleicht nicht der geeignete Ort dafür. Früher oder später werden die Sicherheitsleute vom Seuchenschutz das Loch entdecken, und wir sind hier so lange herumgestanden, dass ich das Gefühl habe, es wird eher früher sein. Wenn ihr alle einverstanden seid, sollten wir diese Wiedervereinigung an einem sicheren Ort feiern.«
»Ich bin immer noch der Meinung, dass wir sie erschießen sollten«, sagte Becks.
Ich sah sie stirnrunzelnd an. »War sie schon immer so blutrünstig?«
Shaun
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