Blackout - Kein Entrinnen
nicht?«
»Dann zerschieße ich ihnen die Kniescheiben.« Erst als ich es sagte, wurde mir bewusst, dass ich es ernst meinte. Die Masons hatten mich aufgezogen. Die Masons hatten mir das größte Geschenk gemacht, das ich jemals bekommen habe: George. Aber sie waren nie wirklich meine Eltern gewesen, weil sie es nie gewollt hatten, und wenn sie zwischen mir und dem standen, was ich tun musste, dann mussten sie einfach weichen.
»Ähm«, sagte Maggie. Sie rückte von mir ab und stand auf. »Gut, wenn du meinst, dass es das bringt. Jedenfalls danke für dein Verständnis.«
»Danke, dass du bereit bist, mit Mahir nach Seattle zu gehen«, gab ich zurück. »Gehst du wieder hinein?«
»Ja. Bist du noch lange hier draußen?«
»Nicht allzu lange.«
»Wenn du bis zum Abendessen nicht drin bist, schicke ich jemanden raus, um dich zu holen.« Sie ging weg, und bei jedem Schritt wippte ihr langer brauner Zopf hin und her. Man konnte sich nur schwer vorstellen, dass sie während ihrer Reise an die Küste als Tarnung die gelangweilte Erbin geben wollte. Und noch weniger konnte ich mir vorstellen, dass die Nachrichtenseiten ihr das abkaufen würden.
»Du musst aufpassen, was du zu den Leuten sagst, Rindvieh«, sagte George. Ich hatte das Beben des Lieferwagens nicht gespürt, als sie sich gesetzt hatte, weil sie in Wirklichkeit nicht da war. Dennoch war ich unwillkürlich ein wenig enttäuscht. »Schau mich an, wenn ich mit dir rede .«
»Entschuldige.« Ich wandte mich meiner verstorbenen Schwester zu und lächelte sie zaghaft an. »Hi, George. Wie geht’s dir heute Abend?«
»Ich mache mir Sorgen«, sagte sie. »Du musst vorsichtig sein. Die Leute sind schon nervös genug, da musst du nicht auch noch davon sprechen, dass du auf Leute schießt.«
»Ich habe auf niemanden geschossen, seit wir hier sind.«
»Das heißt aber nicht, dass sie nicht damit rechnen, dass du damit anfängst.« Ihr Gesichtsausdruck forderte mich zum Widerspruch heraus. Aber ich konnte nichts sagen, und deshalb sah ich sie einfach nur an.
Dass George mir manchmal erscheint, ist vielleicht ein Anzeichen dafür, dass ich in der Geisterbahn immer tiefer in den Wahnsinn rase. Aber in Momenten wie diesem schaffe ich es nicht, mich davon beunruhigen zu lassen. Als sie starb – als ich sie erschoss –, dachte ich, dass es das war. Ich würde sie nie wiedersehen, außer auf Bildern und in meinen Träumen. Doch nun stellt sich heraus, dass es nicht so ist. Und zu verdanken habe ich das der Tatsache, dass mir die Wirklichkeit entgleitet. Seht ihr? Das Verrücktwerden hat auch seine guten Seiten.
Sie sah fast noch genauso aus wie an jenem letzten Tag in Sacramento, bleich wegen ihrer fast schon krankhaften Sonnenscheu, mit dunkelbraunem Haar, das sie aus praktischen Gründen immer kurz schnitt. Sie runzelte die Stirn. Da sie das meistens getan hatte, als sie noch lebte, passte auch das. Im Ernst, wäre da nicht das klare Braun ihrer Iris gewesen, hätte man sie nicht von ihrem früheren Selbst unterscheiden können. Wenn ich meine Halluzination davon überzeugen könnte, eine Sonnenbrille aufzuziehen, wäre die Illusion vollkommen.
George legte die Stirn noch mehr in Falten. »Shaun, hörst du mir überhaupt zu?«
»Ja, ich schwör’s, ich hör dir zu.« Ich streckte die Hand nach ihrem Gesicht aus und hielt inne, kurz bevor ich, statt ihre Haut zu berühren, ins Leere gegriffen hätte. »Ich höre dir immer zu.«
»Du ignorierst bloß die Hälfte von dem, was ich dir sagen möchte, oder?« George seufzte, und ich ließ meine Hand sinken. Solange ich nicht versuchte, sie zu berühren, brauchte ich nicht darüber nachzudenken, was sie war. Nämlich tot. Shaun …
»Es ist schön, dich zu sehen.«
»Es ist schlecht, dass du mich sehen kannst. Du musst mit Dr. Abbey reden. Vielleicht kann sie dir irgendwelche Psychopharmaka geben, bis das alles vorbei ist.«
»Ich drehe durch, wenn ich Psychopharmaka nehme, was dem eigentlichen Zweck eher zuwiderläuft, meinst du nicht auch?« Ich wollte es wie einen Witz klingen lassen. Wir wussten beide, dass ich nicht scherzte. Als ich einmal versucht hatte, sie auszublenden, hatte ich beinahe Selbstmord begangen. »Ich ertrage das Schweigen nicht, George. Das weißt du.«
»Du hast mich einmal gefragt, ob ich dich ewig heimsuchen würde, erinnerst du dich?«
»Das war vor Florida.« Ich hielt ihr den linken Arm hin und zeigte ihr die schwachen Narben auf meinem Bizeps. »Das war, bevor wir herausgefunden
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