Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
Dieser Gletscher war überaus grimmiger Natur, so daß zwei Handvoll der achtzehn Abenteurer, die zu seiner Ersteigung in das Dorf kamen, bei seinem Anblick Angst verspürten und davonliefen. Die anderen wurden von den Dorfbewohnern einquartiert und bewirtet. [10.6.] Die Bergbarbaren wollten den Bergsteigern zwar von deren Vorhaben abraten, da in ihrem Wissen um die Berge verankert war, daß der Gletscher grausam sei und keinem die Möglichkeit zum Aufstieg gewähre, doch die Bergsteiger waren beseelt, nachdem ihnen der Kaiser vor dem Aufbruch Mut zugesprochen hatte. [10.7.] Die St. Petrianer beteten daraufhin für des Kaisers Mannen, aber der heilige Bernhard, der Schutzpatron der Bergleute und Alpenbewohner, hatte wohl zu dieser Zeit zu viel zu tun und erhörte ihre Gebete nicht. [10.8.] Der erste der Bergsteiger kam, wie berichtet wurde, bei einer Lawine ums Leben – die Gefährten konnten ihm nur nachwinken. Der zweite nun wurde vom Pech dahingerafft: Ein einziges Steinchen, das von weit oben nach unten fiel, spaltete seinen Kopf. Der dritte, der vierte und der fünfte wurden von der Technik im Stich gelassen, denn ihr Seil hatte sich gelöst, und sie fielen daraufhin so weit in die Tiefe, daß man sie gar nicht aufschlagen hörte. Weiter wird erzählt, der sechste sei von der Höhenkrankheit befallen worden und habe sich für einen Vogel gehalten – doch er sei nur nach unten geflogen. [10.9.] Als sie nur noch zu zweien waren, verzweifelten sie an ihren absterbenden Fingern, Zehen und Ohrläppchen und traten den Rückzug an, obwohl sie nur noch wenige Meter vor dem Gipfel standen. [11.0.] Die Bergbarbaren, so wird berichtet, waren von dem Ausgang der Expedition wenig überrascht, und so nannten sie die Nordwand von nun an Mordwand und betrachteten Bergsteiger von diesem Tage an als verstandlose Waghalsige, denen ihr Leben nicht lieb ist.
Der Schriftführer
Vierzehn Tage nach dem Sonnwendfeuer – es waren die ersten Tage des Juli – befürchtete Ilse Irrwein, ihr Sohn wäre von Würmern befallen. Doktor Johannes Gerlitzen hatte ihr beigebracht, dass Gemütsveränderungen früher Anzeichen einer Wurmkrankheit lieferten als körperliche Symptome. Schließlich sei ein Wurm daran interessiert, seinem Wirt körperlich so wenig wie möglich zu schaden. Dennoch registriere der Körper, dass er einen Eindringling in sich habe, und das beeinflusse zuerst das Gemüt. Ilse kannte dieses Phänomen aus eigener Erfahrung; in den warmen Monaten kam zwar einmal die Woche der Gemeindearbeiter Schuarl, um die Sandkiste im Kindergarten von Katzenkot zu säubern, dennoch steckten sich pro Jahrgang immer noch drei bis sechs Kinder mit Spulwürmern an.
Johannes war plötzlich cholerisch, bekam grundlos Wutausbrüche und wurde aus dem Nichts tagelang still und zurückhaltend. Sein Appetit war rätselhaft, zeitweise aß er gar nicht, dann jedoch übermannte ihn eine Hungerattacke, und er futterte den ganzen Kühlschrank leer. Manchmal schlief er bis in den Vormittag, dann wieder hörte sie ihn sich um vier Uhr früh im Bett wälzen, tagsüber sperrte er sich entweder ein oder lief ziellos durch die Gegend. An einem Montagmorgen, als er besonders unruhig beim Frühstück saß, fragte sie ihn:
»Johannes, hast du so klane weiße Kugerln im Stuhl?«
Johannes legte den Löffel, mit dem er gerade sein Frühstücksei köpfen wollte, in den Eierbecher und stand auf.
»Du spinnst.«
Ohne das Frühstück oder seine Mutter eines Blickes zu würdigen, verließ er die Küche und murmelte auf dem Weg nach oben:
»Frauen sind alle verrückt.«
Doch das hörte Ilse schon nicht mehr. Sie strich sich nur die Locken aus der Stirn und überlegte, ob sie ihm abtreibende Tabletten ins Essen mischen sollte. So wie er sich benahm, war er wurmbefallen oder verliebt. Aber Letzteres hielt Ilse für unwahrscheinlich. In wen denn, fragte sie sich. St. Peter am Anger war klein und Ilse bestens vernetzt. Hätte er auch nur mit einem St.-Petri-Mädchen gesprochen, hätte sie das noch am selben Tag erfahren. Es mussten also Würmer sein, dachte sie. Dabei war es in Wirklichkeit Simona Nowak, die Johannes verrückt machte. Er hatte drei Mal ihr Heim am Westhang aufgesucht, aber niemand war zu Hause gewesen. Johannes wollte nicht glauben, dass es nur bei diesem einen Kuss bleiben sollte, doch Simona blieb verschwunden, und je mehr Zeit verstrich, desto ängstlicher wurde Johannes, dass der Kuss ein Traum gewesen war.
Als sich die Tür
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