Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I

Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I

Titel: Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Gsella
Vom Netzwerk:
sehen!«
    Natürlich wusste ich sofort, worum es ging. Doch warum er? Wie wusste er, so frug ich mich und ihn, dass ich es war?
    »Ja was glauben Sie!«, fuhr der Unglückliche schreiend fort. »Weil wir Sie tausendmal in unseren Kameras haben! Auf unseren Filmen! Mit und ohne Mantel, lange Hose, kurze Hose, mit und ohne Mütze, im Mantel und im T-Shirt, im Frühling, Sommer, Herbst und, grrr, Dings, fuck!«, schrie er nun noch lauter, »Herbst! Und am Ende laufen Sie Spinner auch noch rückwärts, immer rückwärts! Raus!!«
    Ich erstarrte. Auf ihren – Kameras?! Dann mochte es also tatsächlich wahr sein? Dass nach den Krebsgeschwüren Lidl und Telekom, nach dem Sausack Bahn und all den anderen Macht- und Geldverbrechern auch die letzten Reservate von Kultur und Geist umgeschwenkt waren ins Lager der Abhörer und Schnüffler, der Killer und Korrupten, des prä- oder besser postfaschistischen Überwachungsschweinesystems BRD? Aber ja doch! Und warum, so fragte ich mich und ihn, war er denn bitteschön sauer auf mich ? Statt gerechterweise umgekehrt?
    Nach weiteren Minuten unmanierlichster Mitarbeiterschreierei ergab sich folgendes Bild: In fast dreißig Jahren war es der Frankfurter Bahnhofsbuchhandlung Schmitt & Hahn zu einer rechten Herzensangelegenheit geworden, die von ihr geschätzte Satirezeitschrift Titanic so großzügig wie gut sichtbar zu präsentieren: im Laufweg der Kunden nämlich, direkt gegenüber dem Eingang, in Augenhöhe und zwei prachtvollen Stapeln. Mit vollem Recht habe man, so mein mählich leiser und fast weinerlich redender Angreifer, diesen Platz als verkaufsförderlich, ja geradezu mäzenatisch empfunden und sei umso verwirrter gewesen, als, in jenem verhassten Oktober 2005, ein gleichfalls verwirrter Mann begonnen habe, sich widerrechtlich mindestens zwanzig, oft allerdings fünfzig Titanic -Exemplare zu greifen. Und diese, verteilt auf drei, und hier wirkte mein Gesprächspartner erneut getrieben, AUF DREI BIS FÜNFZIG Stellen im gesamten Laden zu verteilen! Und wenn er sage: im gesamten Laden, dann meine er im gesamten Laden! Mit seinen deutlich über neunhundert Quadratmetern! Zweimal täglich! Immer und immer wieder, gnnn!
    Warum, bei seiner Großmutter, ich diesen Scheiß gebaut hätte.
    Nun also. Warum Scheiß? Was hätte ich, so frag’ ich mich und Sie, denn anderes tun sollen, damals, im Oktober 2005, als ich die Titanic -Chefredaktion just übernommen hatte und die Verkaufsschätzung meines ersten Heftes hereingekommen war: 65.004 verkaufte Exemplare statt wie im Vormonat 65.130? In jenen Tagen also fing es an, und zunächst legte ich die Titanics nur auf die Palette der beliebten News- und Klatschwear: neben den Spiegel - auf den Stern- Stapel, neben die Bunte auf den Haufen unserer direkten Nonsenskonkurrenten Focus , Gala , Cicero , Geldadel nackt u. a. Ich tat dies, je länger je mehr, außerordentlich geschickt und verließ Schmitt & Hahn jeweils nach wenigen Sekunden und komplett unbemerkt, versteht sich.
    Die Schätzung meines zweiten Heftes lautete 64.950. Fortan fanden die Kunden von Schmitt & Hahn die Titanic auch zwischen Aquarium und Süßwasserangeln , Deutsches Waffenjournal und Caliber sowie natürlich Penthouse und Analinferno , wo ich, etwa ab März 2007, auch permanent auf Focus -Exemplare stieß. Und eines Tages ertappte ich den kleinen Dicken in flagranti. Mit Spiegelbrille, rotgefärbtem Haar und hochgeschlagenem Mantelkragen verteilte ein gleichwohl unverkennbarer Helmut Markwort seine Hefte. Sechs deutsche Großbahnhöfe, ich bin ihm zweimal nachgereist, bestückte der Münchner täglich.
    Der F.A.Z. -Herausgeber Schirrmacher kam nur freitags; aber wie! Obwohl bei Schmitt & Hahn jeglicher Verzehr untersagt ist, stürmte der als Frankfurter-Eintracht-Fan verkleidete Presse-Grand ins Geschäft, wickelte laut schnaufend eine in Senf und Ketchup badende Bratwurst aus dem Schal und beschmierte einen Stapel Süddeutscher Zeitungen , bevor er mit wahnhaftem Lachen davonstob.
    Ich aber tat es still und zweimal täglich = insgesamt rund sechzehnhundert Mal, haha – doch dann, es war vor knapp zwei Monaten, und gegen sieben Uhr abends tat ich, was zu tun war, zeigte der mich begleitende Satiriker Tom Hintner mir die Kameras. Bis dahin hatte ich die gut sichtbar an der Decke hängenden rund dreißig Stücke übersehen, und da ich niemals verhaftet worden war, wettete ich mit Hintner, dass es billige Attrappen seien. Als er mich seltsam ansah, versprach ich

Weitere Kostenlose Bücher