Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I
immerhin, im Sichtbereich der vorgeblichen Kameras künftig nur noch rückwärts zu laufen. Dann nämlich müsse der Betrachter glauben, dass der Film es gleichfalls tue; und würde der dann andersherum abgespielt, sähe es aus, als legte ich die Titanic -Hefte – praktisch wieder zurück!
Wieder sah mich Hintner seltsam an. Und dass der Supertrick dann trotzdem schiefging und nicht ankam, gehört zur Perfidie des Überwachungsstaates wie die Tatsache, dass die Schnüffler von Schmitt & Hahn inzwischen alle Filme gelöscht haben – mit einer Begründung wie vom Big Brother persönlich: »Warum sollen wir Ihren Scheiß behalten? Außerdem löschen wir eh alles am selben Tag.« A-ha! Damit nie keiner was beweisen kann! Quo vadis, Orwell?
Und so mussten wir fürs Beweisfoto tatsächlich alles nachstellen, Kollege Hintner und ich. Da war natürlich peinlich gar kein Ausdruck. Aus Rache ließen wir dann wenigstens die Hefte liegen.
DER SOGENANNTE LKW
Es war einmal vor langer langer Zeit, da lebte in einer großen Stadt ein Mann, der immer nur »der gute Mensch« geheißen wurde, denn er war von hochgradiger Freundlichkeit geprägt und schmiss tatsächlich ohne alle Maßen mit ihr um sich. Vielleicht deswegen geht er irgendwie nicht tot; bis heute lebt die Hauptperson in jener großen Stadt, verdient ein karges, aber gottgerechtes Geld als nunmehr freie Schreibkraft eines klugen Monatsblatts und ist zudem kaum älter als zum Zeitpunkt ihres hier berichteten Erlebnisses; wir schreiben aber, da es sich um einen eher märchenhaften Vorfall handelt, schön fein im Präteritum.
Eines Tages nämlich, es war Mittwochfrüh nach Nikolaus, und Frau Holle ließ Trilliarden weißer Flöckchen aus den Oberbetten rieseln, da saß der gute Mensch verträumt an seinem Redakteurstisch, besah zum wohl zehntausendelften Mal die an den Wänden des Büros fixierten Poster und Kalender, rauchte eine Zigarette und knibbelte an einer kirschkerngroßen Pocke, die ihm seit diesem Morgen auf der Stirn saß und ihn zwang, sie unermüdlich mit dem Finger zu umrunden und zu streicheln. Später wollte er den Pickel ausdrücken, stopp: die Zigarette und sich eine neue drehen, als es aber plötzlich klopfte. Der gute Mensch, ein etwa vierzig Jahre alter Mann von leptosomischer Statur und Verwalter einer seinem Eindruck nach recht unscheinbaren Glatze, durchmaß die Stuben einiger Kollegen, die dämmernd vor Computern lungerten, erreichte die eiserne Bürotür, nahm seinen Stummel aus dem Mund und öffnete.
Der Besucher war ein kleiner Mann, einundzwanzig oder dreißig Jahre alt und von bewegtem Äußeren. Sein auf die Schultern hängendes braunes Haupthaar machte nicht den Eindruck, als stehe es im Zentrum seiner Eitelkeiten, und der Jacke seines abgewetzten Jeansanzugs, unter dem ein fleckig gelbes Leibchen sichtbar wurde, fehlten beide Ärmel. Gewebe baumelte an ihrer Stelle; vermutlich hatte er die Ärmel einfach abgerissen. An seiner linken, von Bartstoppeln verschatteten Wange pappten zwei Fingerbreit Schmutz. Auch war die rechte Hand des Mannes bis weit übers Gelenk von einem lumpigen, teils blutig roten Tuch umwickelt – nun aber fiel dem guten Menschen zudem auf, wie stetig dieser Herr von einem Bein aufs andere sprang, mit seinen Händen schnelle Kurven und Figuren zeichnete und auch ohne Unterbrechung sprach, ja sprudelte und mit einer Fistelstimme derart babbelte, dass unsere Hauptperson kaum mitkam und seine Wahrnehmung zunächst auf einen weiteren Aspekt verschob: Stinken, fand der gute Mensch, tat dieser Zappel wie ein Müllsack. In der Basisnote wie Gemüsemüll; die Bauchnote dominierte ein betörend alter Schweiß, und über allem schwebte eine zarte Note Hundekot.
Es war ein bisschen sonderbar.
»Also vierundvierzig Euro«, vernahm der gute Mensch, brauche der Mann »jetzt wirklich absolut sofort!«. Um es zu unterstreichen, faltete der Besucher kurz die Hände, fuhr sich durchs spisselige Haar, hüstelte und röchelte, beschrieb mit halbgebücktem Oberkörper eine ungelenke Pirouette und betonte schließlich, dass ihm gar nichts anderes übrig bleibe: Er müsse »das Geld jetzt verdammt noch mal flüssig haben«; sein Siebzig-Tonner stehe »mit festgefressenen Bremsen ganz hier in der Nähe, Kreuzung Her … Hermann-/Ottostraße. Ja. – Und ohne neue Bremsflüssigkeit krieg ich die Dreckskiste nicht weg. Zwei Liter, kostet vierundvierzig Euro! Hasse ne Kippe?«
Ein dezidiert vorweihnachtlicher Engpass, sagte sich
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