Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I
rückhaltloser an die Welt verteilen, je überzeugender das Elend daherkommt. In Nerz gekleidete Innenstadtbettler haben, wenn nicht gar Verachtung, kaum mehr als einen Groschen zu erwarten; indessen der in Lumpen frierende, am verlassenen Provinzverschiebebahnhof sich’s Gebein wegkratzende Vorstadt-Alkoholiker durchaus sicher sein müsste, am ihm gezollten Mitgefühl zu verbrennen, hätte dieses auch nur einige Temperatur. Vor allem sind, so scheint’s, es ebendiese krankhaft bunten Beine, diese blutroten sei’s krustigen, sei’s wundschwärenden Kniefurunkel, Fußpusteln und Wadenpickel, welche im sensiblen Mitmenschen unnachgiebig jenen Ekel evozieren, der über den Tellerrand des Ästhetischen hinaus schnurstracks ins moralische Gewissenszentrum wächst, um dort im ehrlichen Begehr zu münden, das da möge nicht sein.
Ende des erläuternden Teils.
Allerdings kein – und wirklich und wahrhaftig: kein – Schwein nahm sonderlich Notiz, als G. am 30. Dezember gegen 4 Uhr 20 in der Nacht erwachte und mit einem Ganzkörperkratzen startete, welches bis zu seiner Einlieferung in die Frankfurter Hautklinik anhielt. Bis dahin, bis zum 20. Oktober, juckte seine Haut. Fast dreihundert Tage bedeckte sie, die Haut, nicht nonchalant sein Ich, sondern zwickelte. Zwickelte und juckte. Juckte, wurde rot beim Baden, dick im Bett, pickelte und warf am Ende zweimal so viel Pusteln, wie Erdnüsse in einen mittelhohen Abfalleimer passen. Rote Pusteln waren es, mal pfennig-, mal auch schnitzelgroß, und immer juckend. Und zwickelnd. Zwickelnd zwischen großem Zeh und Seitenscheitel.
G. tat, was übrig blieb: Er kratzte sich, dass es nicht mehr feierlich war, und gewann sehr bald den Eindruck, mit zwei Armen sei der Mensch weder großzügig noch hinreichend, sondern ungenügend ausgestattet. Kratzte seine Linke den Unterbauch, nahm ein Jucken überm rechten Schlüsselbein simultan Gestalt an; augenblicklich zogen beide Oberschenkel nach, überredeten gleichweg den Schambereich, die Augenbrauen ließen sich nun ebenfalls nicht lumpen, derweil auch beide Kniekehlen nicht juckten, eher schneidend zogen – vom permanent zäh zerrenden und kribbeligen Unwohlsein des Rückens wie der Unterarme ohnehin zu schweigen. Nicht wenig fehlte damals, und G. hätte jene Gemütsverfassung zu der seinigen gemacht, welche man als Wahnsinn schilt und die doch nichts anderes ist als höchstgescheite Mimikry an Zustände, die aus dem Ruder gelaufen sind und jedwedes Lot aber schon sowieso verloren haben.
Auch Anti-Pillen halfen ja sehr bald nicht mehr. Was aber half, war, das hatte G. letztendlich spitzgekriegt, Bier; bzw. Alkohol in allen Formen, Farben und Stärken. Bier freilich, angesaugt in Litermengen, half am schönsten, half das Jucken wenn nicht völlig aus der Welt zu schaffen, so doch für Stunden glänzend zu betäuben und zu übertönen – rotzbesoffen konnte G. gar einschlafen, wiewohl er seine List auch immer dergestalt zu büßen hatte, dass sie recht eigentlich nach hinten losging: In der Regel zwischen drei und vier Uhr morgens erwachte G. und kratzte sich die Hefe aus den Poren, bis fahles Zimmerlicht und dummes Gurren fetter Tauben das Dämmern eines neuen, qualversprechenden Tags anzeigten.
Der 20. Oktober war ein Sonntag und elf Stunden alt, als G. eine von leidlich warmer Herbstsonne beschienene Frankfurter Innenstadtapotheke ansteuerte und nicht wusste, was zur Zeit das Schrecklichere war: das Jucken und Ziehen oder der orkanstark tobende, felsblockhaft stabile Schmerz im Kopf. Fünfzehn gewiss, vielleicht auch zwanzig Licher-Gläser hatte G., anlässlich eines Buchmessengelages, am Vortag weggezischt, war blendend eingeschlafen, nun war die Hölle gleich mehrdimensional da. »Fräulein, bitte«, flüsterte er modergrün durch die Sonntagssprechanlage, »geben Sie mir zwei Aspirin und ein Glas Wasser.«
Linderung war es dann nicht, was G. in dieser Straßenbahn verspürte, die an jenem Tage zehnminütlich zwischen Innenstadt und Messehalle pendelte; sondern, besah er’s recht, ein baumstarkes Ziehen im Darm- und Magentrakt, alle Anzeichen eruptiven Pustelausbruchs, deutliche Symptome dickwerdender Lippen, ein stetiges Zuschwellen seiner zwei Augen sowie eine Luftröhre, die sich entschieden hatte, ihren Durchmesser sukzessive zu verringern. Als die Bahn hielt, war einer ihrer Gäste ein unter Allergieschock leidender, weitgehend erblindeter und röchelnder Herr G. Mitmenschen brachten ihn zur Messe-Sanitärstation,
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