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Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I

Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I

Titel: Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Gsella
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breiter war als ein Handrücken, plumpsten unten zwei faltige Doppelkinne heraus. Nun öffnete der Kopf den Mund und sprach mich an, doch je länger er dies tat, desto stärker wurde mir bewusst, dass von seiner Rede nicht das Kleinste zu vernehmen war, und so sagte ich:
    Ein guter Tag sei Ihnen gewünscht, und ganz gewiss ist jedes Ihrer Worte und Geräusche von allergrößter Wichtigkeit. Aber ist es denkbar, dass Sie das entbehren, was man Kehlkopf heißt, und dass Sie vielleicht aus diesem Grunde statt einer Akustik eine immerwährende Schleimflut in die Umwelt spucken?
    Nicht entgangen war mir nämlich, dass jener Herr alle Lungenkraft der Welt in seine stumme Rede legte und darum permanent ausspie, und wenn er auch viel Tuch vor seinen Mund hielt, so fand doch reichlich Auswurf den Weg auf einen kalten Zimmerboden. Kaum hatte ich mich vorgestellt, den Koffer geleert und meine Kleidung in den Schrank gehängt, lag ich auch schon im Bett und bewegte die Situation in meinen Gedanken hin und her, ohne jedoch zu einem Urteil zu gelangen. Dann kam das Mittagessen. Wir beide lehnten uns, halberhoben, gegen die Kissen und pickten die Handvoll gereichter Nudeln. Ich pickte hungrig, und als ich einmal frohen Sinns hinübersah, bemerkte ich an Herrn von Gaelen eine unterhalb des Mundes gelegene zweite, plastikröhrchenartige Öffnung, aus welcher, kaum hatte er eine Nudel in den Mund geschoben, dieselbe unter schlimmstem Husten auch schon keck wieder herausstak. Es war, so sann ich, eine ganze Maschinerie nicht recht in Ordnung, und über einen längeren Zeitraum erwog ich, meine Nahrung für dieses Mal unverspeist zu lassen, denn alles Blut verließ mein Gesicht, während meine Innereien tanzten, und wäre ich damals nicht so gut wie tot gewesen, ich wäre werweiß gestorben.
    In dieser Weise lebten wir beide unter widrigen Umständen, und sooft ich das Wort an meinen stummen Kameraden richtete, sooft fühlte er sich zu einer Antwort bemüßigt, deren Laut und Sinn mir zwar verborgen blieben, die aber regelmäßig von einem Sturmwind von Atem begleitet wurde, der dazu angetan war, innerhalb des Zimmers die teuflischsten Strömungen zu erzeugen, und häufig bereitete ich mich, die Ewigkeit zu schauen. So roh jedoch der Mensch geboren wird, so roh vermöchten ihn die Verhältnisse des Lebens zu gestalten, und auch mir gelang es nach einigen Tagen, alle guten Sitten abzustreifen. Inzwischen hatte man mich operiert, mein Kopfinneres war eine große blutende Wunde, die aus Mund und Nase abfloss, und wann immer die weißen Frauen Nudeln in unser Zimmer stellten, erhob sich aus unseren zwei Betten ein Gekrächze, Gehuste und Gewürge, wie es seinesgleichen gewiss nie wieder geben wird, und was der Kamerad aus Not tat, tat ich doch auch aus schierster Ausgelassenheit und Rache. Kaum eine Nudel fand damals in unsere Mägen, die nicht von einer Arie der schleimigsten Geräusche und Erbrechungen besungen wurde.
    Auch möchte ich in diesem Dokument erwähnen, dass das Leben in einem Hospital nicht frei ist von den sonderlichsten Anekdoten, denn als ich einmal in der Nacht erwachte, sah ich Herrn von Gaelen in einer äußerst wilden Weise auf und ab turnen; er hüpfte, sprang und wedelte mit allen seinen Gliedern, und wenn ich auch zu dieser Zeit nicht laufen konnte, so klatschte ich doch voller Jubel in die Hände, um seinem Tanz den Takt zu geben.
    Erst später erkannte ich eine weiße Frau, die mit uns im Zimmer war, wo sie mit mehreren Schläuchen hantierte, und nach weiteren Phasen der Beobachtung fasste ich den Sinn dieses nächtlichen Ereignisses wie folgt zusammen: Im Bemühen, eine Lungenschleimabsaugmaschine an Herrn von Gaelen anzukoppeln, versagte die weiße Frau – möge sie errettet sein und in Sicherheit! – ein gutes Dutzend von Minuten, und indem der Gute tanzte wie ein Pingpongball, brachte er all seine Kritik und Atemnot zum Ausdruck. Erst am Morgen entschied sich die meerblaue Färbung, aus seinem Gesicht zu verschwinden, und ich bezweifle, dass dieser seltsame Mensch je sein Glück und Gottvertrauen wiederfinden wird.
    Eines Nachmittags, in den lauen Stunden nach der Großen Mahlzeit, lag ich still und all meiner Kraft beraubt in den Matratzen und bedachte das harte Leben und die geringe Anzahl der Nudeln, welche immer das Los der Bresthaften sein würden, als von Gaelen einen Stoß von Winden an mich richtete und mir eine Gauloise ohne Filter anbot. Er selbst hielt eine der Stangen zwischen die feuchten

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