Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I
Notärzte pumpten Cortison, Taxifahrer brachten ihn ins Krankenhaus, Krankenschwestern ihn ins Bett und spritzten, Mediziner sagten »Glück gehabt«, der Mond zog auf, G. lebte weiter.
Wie jeden Morgen nach dem Frühstück war der gelbbraune Raucherraum der Dermatologie bis auf den letzten Platz besetzt von Menschen, deren Haut, wenn auch aus unterschiedlicher Motivation, auf drei Verhaltensweisen sich versteift hatte: abfallen, abplatzen, anschwellen. Oberhalb dieser Basistriade öffnete sich ein weitverzweigtes und äußerst undurchsichtiges Geäst aus Mischehen, Tochtergesellschaften, Holding-Companies, Treuhändereien und auch überraschenden Neugründungen, denen das innovative Element alles war. Junge Frauen mit intakt gebliebener Gesichtshaut, beispielsweise, wussten Teile ihres Kopfhaars zielgenau und exakt in der Sekunde abzustoßen, in welcher ihr bis auf die Knochen abgeschuppter Nachbar sich den Privatkaffee ein- und schleunigst wieder ausgoss. Anderen wuchs an Orten, für die der Schöpfungsplan Hände respektive Füße vorsieht, Panzerartiges von einer Undurchdringlichkeit und Schroffheit, wie Schildkröten sie gegen Tiger entwickelten; wieder andere hüteten einen derart oszillanten Schatz buntester Geschwüre, Pickel, Flechten und Pflanzen, dass Taucher sie für Korallen hätten halten müssen – überflügelt freilich allesamt von jenem Bürger, welcher den gewissermaßen Mythos der Station stellte: indem er nämlich stündlich mehr von seiner Haut an die Umgebung abgab, als gemeinhin jährlich nachwächst!
Ja, er war das unbestrittene Schuppenmonster. Wo es, auch nur sekundenlang, gestanden hatte, blieb eine Lache aus Horn; wo es gesessen, ein Beet. »Ansteckend«, hieß die facharztoffizielle Lesart dieses, wie man munkelte, auch medizinisch völlig unbekannten Existenzzerfalls, sei das »vermutlich nicht«; und doch achtete, wie alle, G. darauf, dem Wirkungsradius dieses wundersamen Wesens fernzubleiben und sich, das vor allem, beim Stuhlgang nicht auf die Brille zu setzen. Geschah dies einmal doch, verbrachte er nicht wenige Minuten mit dem Abschrubben fremder Körperpartikel und ermüdete vor der Zeit.
Wie jeden Morgen nach dem Frühstück saß G. im Raucherzimmer, zählte seine Pusteln, verglich sein Schicksal unauffällig mit dem Los des Monsters, wurde leidlich frohen Mutes und kratzte sich ein wenig, als der Facharzt eintrat und ihm sagte, seine, G.s, Kost sei ab sofort diätetisch; man halte Salicylat, den Grundstoff des Aspirin, für die Ursache seiner Leiden. Fortan erhielt G. Nudeln statt Kartoffeln, als Gemüse nurmehr Kohl und Möhren, Obst war ganz verboten. Sein Jucken hörte, erstmals seit zwei Jahren, auf. Nach fünf Tagen verschwanden die Pusteln. G. war gesund. Als man ihn entließ, drückte ihm ein kahler Oberarzt die Hand, wünschte alles Gute und gab ihm einen Zettel.
SALICYLATFREIE DIÄT
Erlaubt:
Fleisch, Fisch, Geflügel, Käse, Milch
Als Kartoffelersatz: Reis, Nudeln, Mais, Bohnen, Karotten, Popcorn, Butter, Margarine, Mayonnaise, Oliven, Nüsse
Gemüse: Artischocken, Spargel, grüne Bohnen, Broccoli, Rote Bete, Kohlsprossen, Kohl, Karotten, Blumenkohl, Sellerie, Mangold, Kresse
Getränke:
Wasser, Cola, Tee (außer Minze- und Kamillentee), Kaffee, Mineralwasser
Pilze, Salz, naturreiner Essig
Verboten:
Kamillentee, Kaugummi und Minze, Mandeln, Pfeffer, Zimt, Lakritzen
Zahlreiche Obst- und Gemüsesorten wie: Gurken, Erbsen, Äpfel, Tomaten, Aprikosen, Kirschen, Grapefruit, Weintrauben, Rosinen, Zitronen, Melonen
Rotwein
Bier
»Die können«, ging es G. schon auf der Fahrt nach Hause, verstärkt dann abends auf, »sich ihren Äskulap samt Schlange in den Hintern schieben«, allein, es half ja nichts, sooft er sich auch wünschte, ein Irrtum sei der Vater dieser grundperfiden Sauerei – dieser, wie er am zweiten Tag nach seiner Entlassung und schon leidlich auf der Höhe der Verzweiflung ergänzte, »vollversauten Höllenscheiße«: Gegen alle Logik, sanitas, humanitas und auch eigene Empirie war – so ganz glauben konnte er’s gleichwohl noch immer nicht – Bier unters Verdikt gefallen. »Hihi«, versuchte G. am vierten Tage sich zu überlisten, »ich glaub’s halt einfach nicht, Punkt«, hakte dann auch telefonisch im Krankenhaus nach: Man solle ihm doch bitteschön erklären, ob die behauptete stofflich-chemische Kumpanei von Aspirin und, hehehe!, Bier denn logisch-kantianisch möglich und gestattet sei!
»Sie … Hackethal!«
Aber wo G. auch
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