Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I

Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I

Titel: Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Gsella
Vom Netzwerk:
ich mit verstellter Stimme. »Ich suche etwas, wo Tabu draufsteht. Das Wort, verstehen Sie? Tabu. Egal. Irgendwas.«
    »W-wie?«, fragte sie. »Wozu … das denn?«
    Naturwissenschaftlicher Einschub: Die neuere Gehirnphysiologie geht davon aus, dass unser Überlegen aus Billiarden lausgroßer Strompartikel besteht, die so lange zwischen den Erkenntnis-Chromosomen hin- und hersausen, bis eins von denen die Lösung ausspuckt oder aber der Besitzer das Unternehmen eigenwillig wieder abbricht.
    Keins von beidem geschah jetzt bei der Frau. Ihr Mund stand ungefähr halboffen, und ihre beiden Augen wirkten, als würden sie nach innen gucken und hilflos mitverfolgen, wie die Strompartikel immense Zickzackkapriolen aufführten und sich die Lunge aus dem Leib rannten, um aussagebereite Zellen aufzutreiben. Umsonst: Das gesamte Hirn verweigerte die Mitarbeit. Erst nach einer halben Minute stellte die Frau den Gedankenstrom ab, sah mich an und wimmerte:
    »Was um Himmels willen …?«
    »Ach, Sie meinen, ich hole mir darauf einen runter? I wo, haha!«, lachte ich mit verstellter Stimme. »Vergessen habe ich zu sagen, dass ich derzeit an einem Text arbei …«
    Hier stoppte ich. Denn diese Ausrede, das wusste ich ganz plötzlich sonnenklar, war die häufigste, schwiemeligste und dööfste aller möglichen. In diesen Geschäften, dachte ich mit verstelltem Hirn, wimmelt es doch vermutlich von Professoren und Doktoren, die den Verkäuferinnen mit vorgeblichen Studien über sodomitisches Analpiercing oder sonst so was Vertrackteres nicht wenig auf den Wecker fallen. Also fasste ich mich, sah die Frau mit stark verstellten Augen an und sagte:
    »Bitte, fragen Sie nicht. Handeln Sie.«
    »A-alles, wo … Tabu draufsteht?«
    Auch die Frau fasste sich nun wieder. »Ich hab so was gesehen«, sagte sie, »nicht hier oben. Unten. Am besten, ich frage alle meine Kolleginnen, und wenn die’s nicht wissen, versuch ich’s telefonisch bei den Putzfrauen, Geschäftsführern, Lieferanten und so weiter. Kommen Sie bitte mit?«
    »Aber gern.«
    Gemeinsam gingen wir zur Treppe und begannen, sie hinabzusteigen. Unterwegs fiel mir mein Mitbewohner ein, eine Seele nicht allzu jüngeren Alters, der die Sprache seiner Peergroup sich gleichwohl bewahrt hat und zum Beispiel formuliert: »Auf die Perle, da geh ich kaputt drauf.« Überzeugt war ich, dass die Frau mich nun vor all ihre Kolleginnen plazieren und mit den Worten einführen würde: »Hört mal alle her! Hier ist einer, der geht auf Tabu kaputt. Haben wir da was?«
    Mir wäre es, ich schwöre, egal, ja beinah lieb gewesen. Längst war ich ein amorpher Überschallkörper, der alle Wände überlieferten Benimms flink durchbrochen hatte und in ein grenzenloses Universum unbedingter Freiheit vorgestoßen war, in einen Hain der buntesten und polymorphsten Blüten, eine wuchernde und wabernde Galaxie der Sinne, in der nichts zählte, nichts mehr existierte als nur Wollen, Wunsch und wildestes Begehr nach was auch immer aah – und täuschte ich mich nicht, guckten auch die Verkäuferinnen mich schon so komisch an, so … so … fickrig …
    »Dieser Herr braucht was, auf dem Tabu steht.«
    Eine ging zu einem Regal, zog etwas heraus und gab es mir. Es war ein grünes Heft und hieß Tabu. Innen drinnen machten nackte Frauen Pipi.
    »Neunzehn Euro achtzig. Wollnse ne Tüte?«
    »Nö. Man kann’s ja rollen. Wiedersehen.«
    »Wiedersehen.«

AUS DEM NOTIZBLOCK XI
    Interessant
    Meine Beobachtung: Schwedische und englische Huren lächeln mehr als die rumänischen, sind teurer als die dänischen, aber weniger anhänglich als die Lettlands, Afrikas, Kanadas, Indiens und Grönlands bis praktisch runter nach Japan und vor allem Thailand, wo ins Zarte des verschämten Lächelns freilich eine große fremde Falschheit spielt und noch den besten Kunden schreckt. Sie lieben nicht. Man glaubt es anfangs, aber irrt sich. So bleibt mein Geheimtipp: Bayreuth.
    Ikea – Plautus 1: 0
    »Nomen atque omen« hieß es, stimmt mein Nachschlagewerk, erstmals in einem Lustspiel des 184 v. Chr. verstorbenen römischen Dichters Plautus; das einfache römische Volk verbog es sich zum leichter denk- und handhabbaren »nomen est omen«, obwohl (taugt das Latinum also doch mal zu was!) »atque« ein durchaus starkes »und« bedeutet, nämlich »und dazu«. Um eine enge Zusammengehörigkeit also geht und ging es, keinesfalls ab ovo um Identität – aber worauf ich hinaus will: Ein neues Ikea-Etagenbett heißt, der Römer stand

Weitere Kostenlose Bücher