Blaubeertage (German Edition)
die Ecke des Ladens, wo die Puppe sein sollte, aber Tina ist nicht mehr dort. »Lassen Sie mich hinten nachschauen.« Wir bestellen fast immer die gleiche Puppe nach, wenn sie sich verkauft.
Regale füllen die Seitenwände des Lagerraums aus. Dort stehen die mit den Puppennamen beschrifteten Kartons. Sie sind gerade groß genug, dass eine einzelne Puppe hineinpasst. Willkommen in unserer höchstpersönlichen Porzellanpuppen-Gruft.
Mein Blick gleitet die Reihen entlang. Ungefähr in der Mitte des Regals entdecke ich den Namen Tina. Ich rücke die Leiter rüber und ziehe ihren Karton heraus, der sich ziemlich leicht anfühlt.
Auf dem Fußboden – nachdem ich in den Styroporkügelchen herumgewühlt habe – wird mir auch klar, warum. Es ist keine Puppe im Karton. Seltsam. Einen Moment lang stehe ich verwirrt da und bin mir nicht sicher, was ich tun soll. Dann gehe ich wieder in den Verkaufsraum zurück und unterbreche meine Mutter mitten im Satz.
»Tut mir leid, Mom, kann ich dich mal kurz sprechen?«
Sie hält ihren Zeigefinger hoch. Nachdem sie das Gespräch mit der Kundin beendet hat, geht sie mit mir hinter die Kasse. »Was gibt’s?«
»Ich bin eben nach hinten gegangen, um Tina aus ihrer Box zu holen, nur sieht es so aus, als sei sie entführt worden.«
»Ach ja, tut mir leid. Ich habe sie vor einiger Zeit verkauft. Ich muss vergessen haben, ihr Namensschild in die Schublade zu legen.«
»Oh, okay. Ich war nur etwas irritiert. Ich werde der Kundin sagen, dass wir sie für sie bestellen können.« Ich will wieder losgehen.
»Caymen«, sagt meine Mom mit leiser Stimme.
»Ja?«
»Kannst du bitte versuchen, erst zu verkaufen, was wir im Laden haben, bevor du eine neue Puppe bestellst?«
Ich nicke. Natürlich. Das macht Sinn. Meine Mom möchte unser Inventar verkaufen, bevor wir weitere Bestellungen aufgeben. Eine gute Idee, um wieder aus den Miesen zu kommen. Tatsächlich fällt mir ein Stein vom Herzen, dass sie sich einen Plan für die fette rote Zahl in ihrem Buch überlegt hat.
»Es tut mir leid«, sage ich zu der Dame. »Tina hat bereits ein neues Zuhause gefunden, aber wir haben einige andere Puppen, die Tina ganz ähnlich sind. Sie werden sie mögen. Lassen Sie mich Ihnen meine Favoritin zeigen.« Da Favoritin ein weitläufiger Begriff ist, bedeutet das in diesem Fall, dass ich ihr die am wenigsten unangenehm auffallende Puppe zeige.
Aber die Kundin beißt nicht an. Nachdem ich ihr fünf Puppen gezeigt habe, die alle genauso wie Tina aussehen, fängt sie an, sich sichtlich aufzuregen. Ihre Stimme beginnt zu kippen, ihre Wangen färben sich eine Nuance dunkler. »Ich möchte wirklich nur Tina haben. Gibt es irgendeine Möglichkeit, sie zu bestellen? Haben Sie einen Katalog?«
Meine Mom, die sich eben von den anderen Kunden verabschiedet hat, stellt sich zu uns. »Kann ich irgendwie behilflich sein?«
»Sie hatten eine Puppe im Laden, die ich kaufen wollte, aber jetzt ist sie nicht mehr da.«
»Tina«, erinnere ich meine Mom.
»Hat Caymen Ihnen ein paar der anderen Puppen gezeigt?«
»Ja, aber die kommen nicht infrage.«
»Gibt es irgendetwas Bestimmtes an Tina, das die Puppe so besonders für Sie macht?«
»Ja. Mein Vater hatte mir eine Puppe gekauft, als ich noch ein Mädchen war. Als ich älter wurde, wurde die Puppe weggegeben. Inzwischen habe ich meinen Vater verloren. Als ich Tina vor ein paar Monaten sah, konnte ich gar nicht fassen, wie ähnlich sie meiner Puppe war. Damals bin ich gegangen, ohne sie zu kaufen, bekam sie aber nicht mehr aus dem Kopf. Ich möchte wirklich nur diese Puppe.« Ein paar Tränen kullern der Frau über die Wange, sie wischt sie hastig weg.
Ich schaue zur Seite, ihr Gefühlsausbruch ist mir unangenehm. Oder vielleicht ist es etwas anderes. Möglicherweise bin ich eifersüchtig, dass jemand eine so enge Beziehung zu seinem Vater haben kann, dass selbst nach seinem Tod der bloße Gedanke an ihn zu Tränen rührt. Wenn ich an meinen Vater denke, fühle ich nur Leere.
Meine Mom streichelt den Arm der Kundin und sagt: »Das kann ich in jeder Hinsicht verstehen.« Aber versteht sie das wirklich in jeder Hinsicht? Meine Mutter wurde von ihrem Vater auf die Straße gesetzt. Denkt sie gerade daran, während sie die Frau tröstet? Denkt sie oft daran? Oder versucht sie wie ich, diese Gedanken in die hinterste Ecke ihres Bewusstseins zu schieben und zu hoffen, dass sie sich niemals zurückmelden werden, ganz besonders nicht vor anderen Menschen?
Mom fährt fort.
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