Blaubeertage (German Edition)
»Mein herzliches Beileid. Manchmal sind es die kleinen Dinge, die auf fast belanglose Weise diesen einen besonderen Menschen zurückbringen.« Sie winkt mit ihrer Hand in meine Richtung und sagt: »Caymen ist manchmal etwas sehr genau, aber wir können Ihnen definitiv die Puppe bestellen. Vielleicht kann ich Ihnen sogar einen Sonderpreis machen.«
So ist das also, mach mich ruhig zum Sündenbock. Ich kann damit leben, wenn mir die Schuld in die Schuhe geschoben wird. Aber die Tatsache, dass meine Mom mal wieder unsere finanziellen Probleme vergessen hat, macht mir Sorgen. Wäre dieser Laden vielleicht schon längst pleitegegangen, wenn es mich nicht gäbe, die sie davon abhält, Kunden zu viel Rabatt zu geben und Mädchen zu erlauben, sich zu viele Kleider für ihre Geburtstagspuppen auszusuchen …?
»Selbstverständlich«, sage ich. »Lassen Sie mich Ihnen den Katalog zeigen, um sicherzugehen, dass wir auch wirklich dieselbe Puppe meinen.« Ich gehe voran und füge hinzu: »Wir verlangen Vorauszahlung, bevor wir die Bestellung aufgeben können.« Das Letzte, was uns im Moment noch fehlt, ist eine Puppe, die wir bestellen, und eine Kundin, die sie nie abholen kommt.
Meine Mom dreht sich zu mir, als die Kundin den Laden verlässt. »Caymen.«
»Was?«
»Ich kann nicht glauben, dass du eine gute halbe Stunde mit dieser Frau verbracht hast, ohne herauszufinden, warum sie die Puppe haben wollte. Wir nehmen Menschen wichtig, Caymen. Ich habe mich mit zu vielen Menschen abgegeben, die nur sich selbst im Kopf haben. Und da hab ich doch hoffentlich keine Tochter großgezogen, die nicht an andere denkt, selbst wenn es sich um Fremde handelt.«
Moms unverhohlene Anspielung auf meinen Vater ist mir nicht entgangen, aber ihre Verallgemeinerung nervt. Vielleicht ist gar nicht Geld der Grund für all die schlechten Charaktereigenschaften der wenigen Stinkreichen, mit denen sie zu tun hatte? »Du wolltest, dass ich sie überrede, eine zu kaufen, die wir schon haben.«
»Aber nicht für den Preis, dass du sie verletzt.«
»Gefühle kosten nichts. Puppen schon.«
Sie lächelt ein bisschen und streichelt mir dann mit der Hand über die Wange. »Gefühle, meine liebe Tochter, können, wie du vielleicht eines Tages noch lernen wirst, das Kostbarste im ganzen Universum sein.«
Und genau diese Haltung ist es, die den finanziellen Ruin unseres Ladens bedeuten wird.
Als ich später in meinem Zimmer sitze, wiederholt sich ihr Satz in meinem Kopf gebetsmühlenartig. Gefühle können das Kostbarste im ganzen Universum sein . Was soll das heißen? Na gut, ich verstehe die Bedeutung, aber was meint meine Mom damit? Geht es ihr dabei um meinen Vater? Um ihren?
Ich ziehe ein Notizbuch mit der Überschrift Organspender aus dem obersten Fach meines Kleiderschrankes, schlage eine leere Seite auf und notiere mir Moms Satz über meinen Vater. In dem Buch bewahre ich alle Informationen auf, die ich über meinen Dad habe. Tatsächlich weiß ich eine ganze Menge: seinen Namen, wo er wohnt, selbst wie er aussieht. Aus Neugierde habe ich ihn über das Internet ausfindig gemacht. Er arbeitet für eine große Anwaltskanzlei in New York. Aber über jemanden etwas zu wissen, ist nicht dasselbe, wie ihn zu kennen. Deswegen schreibe ich in dieses Notizbuch all die Dinge, die meine Mom je über meinen Dad äußert. Es ist nicht viel. Sie lernte meinen Dad kennen, als sie noch sehr jung war; die Beziehung war kurz. Ich frage mich oft, ob sie ihn überhaupt richtig gekannt hat. Selten hat sie eine meiner Fragen überhaupt beantwortet und irgendwann habe ich aufgehört zu fragen. Aber hin und wieder macht sie beiläufige Bemerkungen, an die ich mich später erinnern möchte. Sie sagt Dinge, die mir dabei helfen könnten, etwas herauszufinden … über ihn? Über mich?
Allein der Gedanke macht mich wütend. Als müsste er ein Mensch aus Fleisch und Blut für mich sein. Er hat meine Mutter im Stich gelassen. Wieso sollte ich irgendetwas mit ihm gemeinsam haben wollen? Aber ich bin nun mal ein praktisch veranlagter und logisch denkender Mensch, und falls ich ihn eines Tages ausfindig machen muss, möchte ich so viel wie möglich wissen. Ich schließe das Buch und unterstreiche noch einmal den Titel. Man kann nie wissen, ob man eines Tages nicht doch mal eine Niere braucht oder so. Deshalb habe ich dieses Notizbuch. Das ist der einzige Grund.
12.
A m nächsten Morgen hat sich meine Laune nicht wirklich gebessert. Über meinen Dad nachzudenken, sorgt bei
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