Blaubeertage (German Edition)
Wirbel. Die Gefühle strömen nur so durch meinen Körper und ich bin überrascht, dass es tiefe Traurigkeit ist, die mich überwältigt, das Gefühl, das ich den ganzen Abend lang so erfolgreich unterdrückt hatte.
Ich bin kurz davor, in Tränen auszubrechen, und vergrabe meinen Kopf in seinem Nacken und hoffe, dass es mir gelingt, sie zurückzuhalten. Er erstarrt und versucht, einen Schritt zurückzutreten, wahrscheinlich, damit er mich ansehen kann, aber ich klammere mich fest an ihn. Er streichelt meinen Rücken.
»Caymen, was hast du? Es tut mir leid. War das zu schnell?« Er lässt mich von der Küchentheke gleiten.
»Nein, das ist es nicht.«
»Es tut mir so leid.«
»Nein, du hast nichts falsch gemacht. Ich hab mir wirklich den ungünstigsten Zeitpunkt ausgesucht, meine Verdrängungstaktik aufzugeben.« Ich bin mir nicht sicher, ob er verstanden hat, was ich gesagt habe, die Gefühle überwältigen mich.
»Sprich mit mir. Was ist passiert?«
»Kannst du mich einfach nur festhalten?« Ich versuche, meine Gefühle wieder unter Kontrolle zu bekommen, bevor ich versuche, es zu erklären.
Er scheint gerade erst bemerkt zu haben, dass er aufgehört hat, mich zu umarmen, denn er holt tief Luft und legt seine Arme wieder um mich. Zwischen uns ist kein Millimeter mehr Platz. Dass er da ist, ist das Einzige, was mich vor einem Nervenzusammenbruch bewahrt, denn nun brechen die Gedanken, die ich den ganzen Abend verdrängt habe, sich ihren Weg an die Oberfläche.
Was, wenn meine Mom tatsächlich schwanger ist? Ein Baby würde unseren Ruin bedeuten. Wir können es uns nicht leisten. Und was für ein Typ ist dieser Matthew? Wird er sich aus dem Staub machen, wenn er es erfährt? Wie kann meine Mom zweimal diesen Fehler machen? Falls ich ein bisschen Hoffnung hatte, den Laden hinter mir lassen zu können und ein eigenes Leben anzufangen, würde diese Nachricht nun alles zunichte machen.
Eine einzelne Träne rollt über meine Wange und ich wische sie schnell mit dem Handrücken weg.
»Du machst mir Angst, Caymen. Was ist los?«
»Meine Mom.«
»Ist alles in Ordnung mit ihr?« Er klingt beunruhigt.
»Es kann sein, dass sie schwanger ist.«
32.
X ander flucht leise. »Mensch, Caymen, das tut mir leid.« Das ist alles, was er für eine Weile sagt. Mit seinem Finger malt er eine Linie auf meinen Rücken: von der einen auf die andere Seite, nach unten, wieder zurück und nach oben. Er wiederholt das Muster immer wieder und wieder.
»Wann hast du es erfahren?«
»Heute Abend.« Ich seufze. »Oder vielleicht ist sie es ja auch nicht. Und ich wünsche mir so sehr, dass sie es nicht ist. Aber wenn sie’s nicht ist, bedeutet das, dass sie irgendetwas anderes hat und dass ich eine schreckliche Tochter bin, weil mir für den Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf geschossen ist, dass sie von mir aus jede Krankheit haben kann – wenn sie nur nicht schwanger ist.«
Er drückt meine Schultern weg und ich hindere ihn nicht. Als sich unsere Blicke treffen, fragt er: »Kann ich irgendetwas für dich tun?«
»Du könntest dafür sorgen, dass das alles bloß ein Traum ist, aus dem ich morgen früh wieder aufwache.«
Er zupft an seiner Unterlippe. »Ich fühle mich, als hätte ich dich heute Abend ausgenutzt. Das tut mir leid. Hätte ich das gewusst, hätte ich nie …«
»Hör auf damit«, unterbreche ich ihn. »Sag das nicht. Ich will dich schon seit Wochen küssen. Lange bevor ich das mit meiner Mom herausgefunden habe. Schon als du mich noch zur Schule gebracht hast.«
Sein Blick wandert zu meinen Lippen und dann wieder zurück auf meine Augen. »Du wolltest mich küssen?«
»›Wollte‹ ist nicht das richtige Wort. Ich will dich küssen.« Ich beuge mich vor und lasse meine Lippen über seine streifen.
Er weicht ein bisschen zurück. »Ich wäre echt der letzte Arsch, wenn ich dich jetzt küssen würde. Komm schon, lass uns reden.« Er nimmt mich an die Hand und führt mich durch den Flur in ein Zimmer mit einem Heimkino und Reihen von dick gepolsterten verstellbaren Sesseln vor einer großen weißen Leinwand.
»Wow«, sage ich und drehe mich im Kreis. »Hier müssen wir uns unbedingt The Shining anschauen.«
Er verzieht einen Mundwinkel zu einem Grinsen, geht dann zu einem Regal mit DVDs und holt die Hülle mit Jack Nicholson darauf heraus, der sein verzerrtes Gesicht durch den Spalt einer Tür steckt.
»Du hast sie dir besorgt?«
»Hab ich. Du hast gesagt, dass wir uns den Film angucken, also habe ich ihn
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