Blauer Montag
anderen Menschen Ratschläge zu erteilen?«
»Alan Dekker«, sagte Frieda, »der Patient, den ich von dir übernommen habe. Erinnerst du dich an ihn?«
»Übernommen? ›Weggenommen‹ trifft es wohl eher. Du meinst doch den, der dafür gesorgt hat, dass ich an meiner eigenen Klinik nicht mehr praktizieren darf, oder? Das Problem ist, dass es kaum etwas gibt, woran ich mich im Zusammenhang mit ihm erinnern kann, weil mich nämlich ausgerechnet meine ehemalige Lieblingsstudentin, die ich nach Kräften gefördert habe, von dem Fall hat abziehen lassen. Also, was ist das Problem? Hat er sich jetzt auch über dich beschwert?«
»Das Problem ist, dass er mir ziemlich zusetzt.«
»Ach, tatsächlich?«
»Ich kann schon seit Tagen nicht mehr richtig schlafen.«
»Du konntest doch noch nie richtig schlafen.«
»Aber jetzt habe ich seinetwegen Albträume, ich fühle mich wie von ihm infiziert. Deswegen habe ich mich gefragt, wie es dir mit ihm ergangen ist. Ob das vielleicht auch der Grund war, warum es zwischen euch beiden schiefgelaufen ist.«
Reuben nahm einen Schluck Kaffee. »Lieber Himmel, ich hasse dieses Zeug!«, stieß er aus. Dann fuhr er fort: »Du erinnerst dich an Dr. Schoenbaum?«
»Er war einer von deinen Dozenten, oder?«
»Genau. Er wurde von Richard Steiner analysiert, und Richard Steiner von Thomas Bayer, und Thomas Bayer von Sigmund Freud. Schoenbaum war sozusagen mein heißer Draht zu Gott. Er hat mir beigebracht, dass du als Psychoanalytiker kein menschliches Wesen mehr bist, sondern eher so etwas wie ein Totempfahl.«
»Ein Totempfahl?«
»Du bist einfach nur da. Wenn dein Patient hereinkommt und dir erzählt, dass gerade seine Frau gestorben ist, sprichst du ihm nicht dein Beileid aus. Stattdessen analysierst du, warum er das Bedürfnis verspürt, dir davon zu erzählen. Doch obwohl Schoenbaum brillant und charismatisch war, dachte ich mir: Zum Teufel damit! Ich wollte mit meinen Patienten das genaue Gegenteil von dem machen, was er tat. Ich wollte ihnen die Hand halten und in unserem kleinen Raum alles tun, was sie taten, allen Pfaden folgen, die sie einschlugen, und alles fühlen, was sie fühlten.« Reuben beugte sich so weit zu Frieda hinüber, dass sie seine Augen aus nächster Nähe sehen konnte: gelblich verfärbt und in den Augenwinkeln rot geädert. Sein säuerlicher Atem roch nach Kaffee, Alkohol und ungesundem Essen. »Du glaubst gar nicht, durch welchen Mist ich gewatet bin. Du glaubst nicht, was für eine Scheiße durch das menschliche Gehirn fließt. Ich bin bis zum Hals darin gewatet. Männer haben mir schlimme Sachen über Kinder erzählt und Frauen über ihre Väter und Onkel. Ich weiß nicht, wieso sie nicht einfach aus dem Raum gegangen sind und sich ihr gottverdammtes Gehirn weggeblasen haben. Ich bildete mir ein, ich wäre ihnen vielleicht eine Hilfe, indem ich mit ihnen auf die Reise ging und ihnen zeigte, dass sie nicht allein waren, sondern das Ganze mit jemandem teilen konnten. Vielleicht wären sie dann in der Lage zurückzukehren und etwas aus ihrem Leben zu machen. Und weißt du, was? Nachdem ich das nun fünfundzwanzig Jahre lang praktiziert habe, bin ich am Ende. Weißt du, was Ingrid zu mir gesagt hat? Sie hat gesagt, ich sei erbärmlich, trinke zu viel und hätte mich zu einem richtigen Langweiler entwickelt.«
»Du hast Menschen geholfen«, erklärte Frieda.
»So, meinst du?«, entgegnete Reuben. »Wahrscheinlich wäre es auf dasselbe hinausgelaufen, wenn sie sich ein paar Pillen eingeworfen oder ein bisschen Sport oder einfach gar nichts gemacht
hätten. Wie auch immer, ich weiß nicht, welche Wirkung es auf sie gehabt hat, aber mir hat es alles andere als gutgetan. Sieh dich doch mal um. Das kommt dabei heraus, wenn man diese Leute in seinen Kopf hineinlässt. Falls du also wirklich einen Rat von mir möchtest, dann gebe ich dir hiermit einen: Sobald dir ein Patient unter die Haut geht, gib ihn sofort an einen anderen Therapeuten ab. Du wirst diesem Menschen nicht helfen, und dir selbst tust du damit auch nichts Gutes. So, jetzt kannst du gehen.«
»Ich habe gar nicht zugelassen, dass er mir unter die Haut geht – jedenfalls nicht auf die Art, wie du meinst. Es ist nur irgendwie … nun ja, seltsam. Er ist seltsam.«
»Inwiefern?«
Frieda erzählte ihm von ihren Sitzungen mit Alan und wie überrascht sie gewesen sei, als sie die Zeitung aufschlug und von Matthew las. Reuben hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen. Einen Moment lang vergaß Frieda
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