Blauer Montag
daran, dass er sich in etwas anderes verwandelte. Er verwandelte sich in Simon. Er hatte rote Flecken auf der Haut. Im Mund hatte er auch Flecken. Sie brannten, wenn er Wasser trank. Die eine Hälfte von ihm war Matthew, die andere Simon. Er hatte das Essen hinuntergeschluckt, das ihm in den Mund geschoben wurde. Kalte Bohnen und labberige fette Pommes, die ihn an Würmer erinnerten.
Wenn er den Kopf gleich neben seiner Matratze auf den Boden presste, konnte er Geräusche hören. Ein leises Scheppern. Böse Stimmen. Etwas Brummendes. Einen Moment lang erinnerte es ihn an vorher, als er noch ganz war und seine Mummy – als sie noch seine Mummy war und er ihre Hand noch nicht losgelassen hatte – das Haus putzte und alles so machte, dass ihm nichts passieren konnte.
Als er heute durch die untere Ecke des Fensters spähte, hatte sich die Welt schon wieder verändert. Nun war sie weiß und glänzend, und eigentlich hätte sie schön sein sollen, aber ihm tat der Kopf weh, und Schönheit war nur grausam.
20
D er schäbige kleine Zug war fast leer. Ächzend ratterte er durch die unbekannten Teile Londons – vorbei an den Rückseiten der Reihenhäuser mit ihren winterlich matschigen Gärten, den dunkel gefleckten Mauern verlassener Fabriken, wo Nesseln und Weidenröschen aus den Ritzen zwischen den Ziegelsteinen sprossen. Gelegentlich erhaschte man einen Blick auf einen Kanal. Frieda entdeckte die gebeugte Gestalt eines Mannes in einem dicken Mantel, der eine Angel über das braune, ölige Wasser hielt. Beleuchtete Fenster flogen vorüber, und hin und wieder sah Frieda jemanden dahinter: einen jungen Mann, der fernsah, eine alte Frau, die ein Buch las. Von einer Brücke blickte sie auf eine Hauptstraße hinunter, wo weihnachtliche Lichterketten um die Lampenpfosten geschlungen waren und die Leute mit Einkaufstüten die Straße entlangeilten, zum Teil mit Kindern im Schlepptau. Von den Reifen der Autos spritzten Wasserfontänen hoch. Vor Friedas Augen lief London ab wie ein Film.
In Leytonstone stieg sie aus. Es dämmerte bereits, und alles wirkte grau und trüb. Das orangegelbe Licht der Straßenlampen schimmerte auf den nassen Gehsteigen. Busse schaukelten vorbei. Die Straße, in der Alan wohnte, war lang und gerade, ein Korridor aus spätviktorianischen Reihenhäusern, gesäumt von stämmigen Platanen, die dort vermutlich schon genauso lange standen wie die Häuser. Alan wohnte in Nummer 108, am hinteren Ende. Frieda verlangsamte ihr Tempo, um die Konfrontation mit ihm noch ein wenig hinauszuzögern. Sie blickte durch die Erkerfenster von Häusern in große Erdgeschossräume, an deren Ende man in die dahinter angrenzenden, im Winterschlaf liegenden Gärten sehen konnte.
Obwohl Frieda für die Begegnung gewappnet war, spürte sie Beklemmung in der Brust, als sie schließlich das Tor aufschob und an der dunkelgrünen Tür läutete. Irgendwo tief im Haus hörte sie einen zweifachen, fröhlichen Glockenton. Ihr war kalt, und sie war müde. Sie musste an ihr eigenes Haus denken – das wärmende Kaminfeuer, das sie später entzünden würde, wenn sie die Sache hier hinter sich gebracht hatte. Drinnen hörte sie Schritte, dann schwang die Tür auf.
»Ja?«
Die Frau war klein und stämmig. Sie stand vor ihr, als wollte sie Frieda zum Zweikampf herausfordern: die Beine leicht gespreizt, die Füße fest auf den Boden gestemmt. Ihr braunes Haar war kurz geschnitten. Sie hatte große, schöne graue Augen, eine blasse, glatte Haut mit einem Muttermal direkt über dem Mund und ein energisches Kinn. Sie trug Jeans und ein graues Flanellhemd, bei dem sie die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hatte. Ihr Gesicht war ungeschminkt. Sie musterte Frieda eindringlich. Ihr Mund wirkte verkniffen.
»Ich bin Frieda. Ich glaube, Alan erwartet mich.«
»Ja. Kommen Sie herein.«
»Sie müssen Carrie sein.«
Frieda trat in die Diele. Irgendetwas drückte gegen ihre Wade. Als sie nach unten blickte, stellte sie fest, dass sich eine große Katze an ihr Bein schmiegte. Frieda beugte sich hinunter und streichelte sie am Rücken. Mittlerweile schnurrte das Tier so heftig, dass selbst seine Wirbelsäule zu vibrieren schien, als Frieda mit einem Finger darüberstrich.
»Hansel«, sagte Carrie. »Gretel muss auch irgendwo sein.«
Im Haus war es warm und dunkel, und die Luft roch angenehm holzig. Frieda hatte das Gefühl, eine ganz andere Welt betreten zu haben, als es die Fassade vermuten ließ. Sie war davon ausgegangen, dass
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