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Bleeding Violet - Niemals war Wahnsinn so verfuehrerisch

Titel: Bleeding Violet - Niemals war Wahnsinn so verfuehrerisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dia Reeves
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als das langgezogene Fenster auf der anderen Seite der Theke anfing zu rasseln.
    Mein erster Gedanke war, dass es sehr stürmisch sein müsste, aber vor dem Fenster war alles ruhig. Die Bäume auf der anderen Seite der Straße hätten Skulpturen sein können, ihre blassgelben Blätter regten sich nicht.
    Der dauerbewölkte osttexanische Himmel riss für einen Moment auf und ließ einen Sonnenstrahl aufflammen. Das Licht fiel auf das Fenster …
    Es war, als stünde ich vor einer Reihe aus buntem Glas.
    Rote und blaue und gelbe Windrädchen schienen über das Fenster zu schwirren. Buntes Licht fiel ins Büro und berührte mein Kleid und meine Haut.
    Ein einzelner grüner Wirbel fiel in einer langen Schlangenlinie am Glas runter und zog eines der Windrädchen hinter sich her. Am unteren Teil des Fensters floss die grüne Linie über und wurde dicker, traf mit einem Geräusch von feuchtem Ton auf den Boden, wurde länger und dunkler, streckte sich in die Höhe, veränderte seine Form zu schwarzen Stiefeln. Jeans. Grünem Shirt. Weichem braunem Hals. Dunklem, kurzrasiertem Haar.
    Wyatt stand vor mir und drehte mir den Rücken zu. Wyatt war aus dem Glas gekommen.
    Die Wolken schlossen sich wieder und verschluckten die Sonne, und die Farbfeuerwerke im Glas verschwanden, bis auf das eine, das Wyatt mit angespannten Armen vom Fenster weggezogen hatte. Er brachte es dazu, seine flache Windradform und seine Farbe zu verlieren, und es sah so aus, als hielte er einen tropfenden Wasserstrahl fest.
    Ich musste ein Geräusch gemacht haben. Wyatts Kopf schoss herum. Er sah mich. Glotzte. »Was machst du …«
    Er ließ die glitzernde Masse los, die sogleich wie ein Gummiband zurück zum Fenster sprang. Wyatt schnappte sie sich, geschmeidig wie eine Katze, bevor sie wieder ganz vom Glas aufgenommen werden konnte.
    »Ist das ein Lockvogel?«
    »Raus hier!«, schrie Wyatt und zog das lange, glitzernde Ding aus – was? Glas? Licht? – weiter vom Fenster weg.
    Ich ging nicht raus. Mein Körper schien weder auf Befehle von Wyatt noch von mir zu reagieren. Ich war gerade in Gesellschaft einer Person, die noch verrückter war als ich. Ich wäre nicht einmal gegangen, wenn ich es gekonnt hätte.
    Er versuchte, in seine Hosentasche zu fassen, aber der zappelnde Lockvogel – war es ein Lockvogel? – warf sich nach vorne, und Wyatt verlor das Gleichgewicht. Bevor Wyatt mit dem Gesicht ins Fenster fiel, stemmte er einen Fuß zwischen sich und die Wand und hebelte sich und den Lockvogel, den er gefangen hatte, weg vom Glas.
    Mein Kopf fühlte sich an, als hätte man ihn mit Baumwolle gestopft. Nicht wegen der Ohrstöpsel, die ich nun immer in der Schule trug, wie alle anderen auch, sondern weil ich das alles gerade nicht verarbeiten konnte. Ich konnte die Existenz eines Lockvogels und eines Jungen, der aus eigenem Willen zu Glas werden und aus Glas herausfließen konnte, nicht verkraften. Nicht beides auf einmal.
    »Hanna!«
    »Ich muss nicht gehen, wenn ich es nicht will.« Die extreme Situation hatte mich in eine Fünfjährige verwandelt.
    »Du sollst nicht gehen«, sagte Wyatt. Er schwitzte und kämpfte, um den Lockvogel festhalten zu können. »Du sollst in meine Hosentasche greifen und – Hanna! Hörst du mir zu?«
    »Okay.«
    »Hol die rote Karte aus meiner rechten Vordertasche.«
    Ich ging in Megazeitlupentempo um die Theke herum, als wäre ich in einem Traum, in dem die Luft dick und schwammig und fest wäre. Als ich ganz nah war, glitt ein schmales Spiegelbild meines Gesichts über die Oberfläche des Lockvogels in Wyatts Händen. Ich sah wie ein Geist aus.
    »Hanna! Die Karte!«
    Ich war nur einen Kuss von Wyatt entfernt, nah genug, um seinen Schweiß und den minzigen Kaugummigeruch in seinem Atem zu riechen. Einem Jungen, den man absolut furchtbar fand, in den Hosentaschen herumzukramen, musste wohl das Abscheulichste auf der ganzen Welt sein.
    Wyatts Jeanstaschen waren warm, aber die Karten fühlten sich so eiskalt an, dass sie meine Fingerspitzen taub werden ließen. Ich zog den kleinen Kartenstapel hervor. Er war halb so groß wie ein normales Kartenspiel. Ich hasste es, wie sie sich anfühlten. Dann ging ich sie schnell durch, bis ich die rote Karte gefunden hatte. Auf einer Seite hatte sie eine dünne Papierfolie, die andere Seite war seidenglatt und hatte merkwürdige schwarze Markierungen eingestanzt. Ich schob die restlichen Karten wieder in Wyatts Tasche.
    »Okay«, sagte er. »Zieh die Folie von der Karte und … Wo

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