Bleeding Violet - Niemals war Wahnsinn so verfuehrerisch
Dieses Jahr sind es manische Depressionen, nächstes Jahr ist es wahrscheinlich Alterssenilität. Alles, was ich brauche, sind meine Tabletten, und die kann ich auch von einem normalen Arzt bekommen. Ich kann sehr gut mit dieser Situation allein klarkommen.«
»Ich hab ja gesehen, wie du mit Situationen allein klarkommst.« Sie machte viel Aufhebens darum, sich am Kopf zu reiben.
»Du willst mich auch nur in eine Anstalt stecken wie Tante Ulla! Gib’s zu! Ich schwöre dir, wenn du versuchst, mich in eine Anstalt zu stecken, dann …« Was? Werde ich ihr wieder eins überziehen? Werde ich sie verstümmeln? Nichts schien mir schlimm genug.
»Du sollst doch nicht in eine Klinik«, sagte Rosalee sanft. »Ich komme nur gerade von einer Frau namens Dr. Geller. Sie arbeitet von zu Hause aus. Dort ist es sehr nett, und du musst nur mittwochs hingehen.«
Mir war vom Verstand her klar, dass ich einen Therapeuten brauchte, aber Tante Ulla hatte mich wegen jeder Kleinigkeit zu einem abgeschoben. Das war viel einfacher gewesen, als sich selbst mit mir zu beschäftigen. Was, wenn Rosalee dieselbe Strategie entwickelt hatte?
Verdammte Therapeuten.
Ich hatte es nicht eilig gehabt, nach der Begegnung mit Melissa und der Jagd wieder in die Unterstadt zu gehen. In meiner Erinnerung gab es dort nur Schreckliches: Leichen, widerliche Gerüche, Hartköpfe. Aber als Rosalee und ich dort entlangschlenderten, stellte ich fest, dass die Unterstadt einfach nur ein weiterer Stadtteil war. Dort war es nicht so hübsch und historisch wie die Gegend, in der ich wohnte – am Square, wie Wyatt es nannte –, aber die Gegend hatte durchaus Charme.
»Sie ist in zwei Teile geteilt«, erklärte Rosalee und sprang auf den Sockel einer Straßenlampe. »Komm hier rauf.«
Ich tat es und fühlte mich wie der Typ in Singin in the Rain .
»Siehst du den Pavillon da hinten? Das ist der Portero Park, also wird diese Gegend der Unterstadt auch Parkseite genannt. Und siehst du die Bäume ganz weit hinter dem Pavillon? Das ist der Dunkle Park. Auf der anderen Seite des Dunklen Parks fängt die Dunkelseite an. Vor der Dunkelseite musst du dich in Acht nehmen. Da passiert der ganze seltsame Scheiß.«
»Dieser fliegende Egel hat mich nicht in der Dunkelseite angegriffen.«
Rosalee hüpfte von dem Sockel. »Der meiste seltsame Scheiß.«
Wir gingen zu einem Lokal, das kein Schild an der Tür hatte, aber dort gab es die besten Taquitos weit und breit. Knusprig und würzig, es lohnte sich, dass ich mir die Zunge verbrannte.
Bei unserem Verdauungsspaziergang zwickte ab und zu mein Ellenbogen. Seit dem Vorfall mit dem Wunsch passierte das manchmal. Ich ignorierte es, wie ich alle beunruhigenden Dinge, die in dieser Nacht geschehen waren, ignorierte. Ich ignorierte es und freute mich einfach nur darüber, mit Rosalee zusammen zu sein.
Poppa und ich waren oft zusammen spazieren gegangen, aber mit Rosalee war es anders. Immer, wenn Poppa und ich gereist waren, hatten sich die Leute an unseren unterschiedlichen Hautfarben gestört und sich gefragt, in welcher Beziehung wir wohl zueinander standen. Aber die Ähnlichkeit mit Rosalee war so auffällig, wer könnte da unsere Verwandtschaft infrage stellen?
Rosalee zeigte mir einen coolen Stoffladen, und ich ging rein, um drei Meter grünen Angorastoff zu kaufen. Daraus würde ich Wyatt einen Mantel machen, auch wenn gerade erst Oktober war und es sogar immer noch zu heiß für Pullover war.
Leute saßen oder schaukelten auf ihren Veranden. Sie sahen ihren Kindern beim Spielen zu, sie sahen sich gegenseitig zu. Sie sahen uns zu. Nein, nicht uns . Rosalee.
Ein paar von ihnen zogen schnell ihre Handys raus, um Fotos zu machen, als wir vorbeigingen, und das lag nicht nur an ihren engen Klamotten. Ich hatte das Gefühl, dass ich der einzige Grund war, warum die Leute sie nicht bedrängten, so als wäre sie ein Rockstar und ich ihre matronenhafte Tante. Aber trotz der Aufmerksamkeit hatte Rosalee nur Augen für mich.
In einer Straße waren wir jedoch nicht so willkommen. Es war eine Straße mit Bäumen auf jeder Seite, die mit militärischer Präzision angepflanzt waren. Die Leute drückten sich in den Schatten unter den Bäumen und beobachteten uns mit wachem Misstrauen. An ihnen vorbeizugehen war, als ginge man an nachlässig angeketteten Rottweilern vorbei.
»Was haben die für ein Problem?«, fragte ich und drückte mich enger an Rosalee.
»Das ist die Dark Peach Street«, sagte sie. Das Verhalten ihrer
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