Bleib nicht zum Frühstück
nach Annie zu schauen.
Sie stieg die Treppe zur Veranda hinauf und trat, wie Annie es ihr beim letzten Besuch empfohlen hatte, ohne zu klopfen ein. Du gehörst jetzt zur Familie, mein liebes Fräulein, für den Fall, daß du es vergessen hast.
»Annie?« Sie warf einen Blick in das leere Wohnzimmer.
Zu ihrem Entsetzen streckte mit einem Mal Lynn Bonner den Kopf durch die Küchentür und kam zögernd herbei.
Jane fielen die Blässe unter Lynns Make-up und die dunklen Schatten unter ihren Augen auf. In Jeans und einem alten pinkfarbenen T-Shirt hatte sie nur wenig Ähnlichkeit mit der eleganten, modischen Gastgeberin, die sie vor fünf Tagen doch ziemlich beeindruckt hatte. Beinahe wäre ihr ihre Besorgnis herausgerutscht, aber selbst eine harmlose Anteilnahme konnte mehr schaden als nützen.
Wenn sie Lynns Probleme nicht noch vergrößern wollte, mußte sie ihre Hexenrolle beibehalten. »Ich wußte nicht, daß Sie hier sind. Cal wollte doch mit Ihnen ins Restaurant gehen.«
»Sein Vormittagstermin hat sich in die Länge gezogen, deshalb sagte er mir ab.« Lynn hängte das Geschirrtuch auf, das sie in den Händen gehalten hatte. »Bist du aus einem bestimmten Grund gekommen?«
»Ich wollte nach Annie sehen.«
»Sie macht gerade ein Nickerchen.«
»Dann grüßen Sie sie von mir.«
»Was wolltest du denn genau?«
Schon war Jane dabei, ihre Sorge um Annie zu äußern, hielt sich aber gerade noch rechtzeitig zurück. »Cal meinte, ich soll heute nur mal einen Blick hereinwerfen.« Waren Lügen auch dann eine Sünde, wenn man sie in bester Absicht von sich gab?
»Ich verstehe.« Lynns blaue Augen gefroren förmlich.
»Nun, es freut mich, daß dein Pflichtgefühl dich hergeschickt hat, denn ich würde gerne mit dir reden. Möchtest du einen Kaffee oder Tee?«
Ein persönliches Gespräch mit dieser Frau kam ihr jetzt äußerst ungelegen. »Ich kann wirklich nicht bleiben.«
»Es wird nicht lange dauern. Nimm Platz.«
»Vielleicht ein anderes Mal. Ich habe noch mindestens ein Dutzend wirklich wichtiger Dinge zu erledigen.«
»Bitte setz dich hin!«
Wäre Jane nicht so erpicht darauf gewesen fortzukommen, hätte sie vielleicht sogar gelacht. Offenbar stammten Cals Führungsqualitäten nicht einzig von seinem Vater; aber wahrscheinlich wußte jede Frau, die drei willensstarke Söhne aufgezogen hatte, wie sie ihre Autorität am besten durchsetzte. »Also gut, aber nur für einen kurzen Augenblick.« Sie nahm am Ende des Sofas Platz.
Lynn setzte sich in Annies gepolsterten Schaukelstuhl.
»Ich möchte mit dir über Cal reden.«
»Hinter seinem Rücken spreche ich nicht gern über ihn.«
»Ich bin seine Mutter und du bist seine Frau. Wenn uns das nicht das Recht gibt, über ihn zu reden, dann weiß ich nicht, mit welchem Recht man sich überhaupt jemals über einen Menschen unterhalten darf. Schließlich haben wir ihn beide gern.«
Jane vernahm das leise Fragezeichen am Ende dieser Feststellung und begriff, daß Lynn eine Bestätigung erwartete. Doch sie sah ihre Schwiegermutter möglichst unbewegt an. Cal hatte recht. Lynn und Jim hatten genug gelitten, um nun nicht auch noch mit der Trauer um die fehlgeschlagene Ehe ihres Erstgeborenen belastet zu werden. Sollten sie statt dessen lieber feiern, wenn diese katastrophale Beziehung ein Ende nahm. Vielleicht entstünde dadurch zwischen ihnen ja eine neue Form der Gemeinsamkeit.
Lynns Haltung wurde starr, und Jane verspürte ehrliches Mitgefühl mit ihr. Sie bedauerte den Schmerz, den sie ihr im Augenblick zufügen mußte. Aber letztendlich war dies gütiger. Ihre Schwiegereltern schienen das Leid regelrecht anzuziehen; infolgedessen würde sie dieses zusätzliche Elend möglichst rasch beenden.
»In mancherlei Hinsicht schlägt Cal seinem Vater nach«, begann Lynn. »Sie haben beide ein ziemlich aufbrausendes Temperament, aber sind auch leichter zu verletzen, als man denkt.« Lynns Gesicht umwölkte sich.
Vielleicht würde sie durch ein kleines Zugeständnis ja so weit beruhigt, daß sie die Sache momentan auf sich beruhen ließ. »Cal ist ein ganz besonderer Mensch. Das wußte ich bereits in dem Augenblick, als ich ihm zum ersten Mal begegnet bin.«
Sofort erkannte Jane, daß diese Bemerkung ein Fehler gewesen war; denn umgehend glomm in den Augen ihrer Schwiegermutter ein Funke mütterlicher Hoffnung auf.
Sichtlich erwog Lynn, ob die frostige, snobistische Braut, mit der ihr ältester Sohn nach Hause gekommen war, vielleicht doch nicht eine solche
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