Bleib ungezaehmt mein Herz
natürlich noch wesentlich mehr gewinnen.«
Marcus hatte das Gefühl, sein Kopf müßte jeden Moment explodieren. »Sie besucht also Spielhöllen, richtig? Es muß ja für sie wie in alten Zeiten sein.«
Sebastian zuckte zusammen. »Ju ist nicht wie andere Frauen, Marcus. Sie hat ihren Stolz... vielleicht mehr als die meisten Frauen.« Er schüttelte den Kopf, suchte krampfhaft nach den richtigen Worten. »Aber wenn du versuchst, ihr deinen Willen aufzuzwingen, wird sie Zurückschlagen. Sie ist noch nie von irgend jemandem finanziell abhängig gewesen. Wenn du nur einfach darauf vertraut hättest, daß sie ihre Ausgaben in Grenzen halten würde, wäre nichts von alledem passiert.«
»Ich danke dir, daß du mich aufgeklärt hast.« Marcus erhob sich. »Es ist nur zufällig so, daß mein Vermögen nicht jeder Abenteurerin zur Verfügung steht, die es geschafft hat, einen gewissen Anspruch darauf zu erheben. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigst... ich will mich deiner Schwester widmen. Bisher ist es mir nicht gelungen, sie mit der Tiefe meiner Gefühle in dieser kniffligen Angelegenheit zu beeindrucken. Ich werde das jetzt klarstellen.«
Schweren Herzens schaute Sebastian Marcus nach, als dieser mit energischen Schritten aus dem Zimmer ging. Das zerbrechliche Gefüge von Judiths Ehe würde einen tiefen Riß bekommen, soviel wußte er mit Sicherheit. Ob sich der Schaden reparieren ließe, blieb abzuwarten. Aber er mußte jetzt für seine Schwester da sein. Sie würde ihn sehr bald brauchen.
Sebastian trank noch ein Glas Portwein und ging dann nach Hause, um die Entwicklung der Dinge abzuwarten"
20. Kapitel
Marcus schlenderte St. James Park in Richtung Curzon Street hinauf. Es war eine finstere Nacht, doch er wäre sich auch im hellsten Mondschein seiner Umgebung nicht bewußt gewesen. In seinem Kopf brodelte ein Hexengebräu aus Wut, Enttäuschung und etwas, was er vage als Kummer erkannte. Kummer über die heftige, plötzliche Zerstörung seines Glaubens, daß seine Ehe, auf Treibsand gegründet, erneut aufgebaut werden könnte, diesmal auf einem sicheren Fundament aus Zement. Er hatte begonnen, die Last des Mißtrauens abzuschütteln, hatte mehr und mehr zugelassen, daß die Wärme seiner Gefühle für Judith seine Zweifel verdrängte, hatte sich von ihr in jeder Hinsicht so gründlich verführen lassen, wie er sich in Brüssel einfach von ihrem Körper hatte verführen lassen. Und jetzt war alles vorbei, Asche auf seiner Zunge. Judith wollte nur das, was er ihr materiell geben konnte. Und als er diese Wünsche nicht befriedigte, hatte sie keinen Gedanken an seine gesellschaftliche Stellung verschwendet, keinen Gedanken an ihre, sondern sich einfach genommen, was sie haben wollte, ihre verabscheuungswürdige Maskerade so schamlos fortgesetzt wie eh und je. Sie hatte kein Interesse und auch nicht die Absicht, seine Ehefrau im vollsten Sinne zu sein, ihren Lebensstil den Erfordernissen und Pflichten einer solchen Position anzupassen, obwohl sie deren Vorteile in vollen Zügen genoß. Sie benutzte ihn - so wie sie ihn von Anfang an benutzt hatte.
An der Ecke Duke Street und Piccadilly wurde Marcus durch Radau und Gegröle aus seiner Selbstversunkenheit
gerissen. Eine Gruppe junger Männer, ungefähr in Charlies Alter, torkelte betrunken den Gehsteig hinunter, Arm in Arm und Weinflaschen schwenkend. Einer von ihnen feuerte ein Gewehr in die Luft ab, und ihre heisere, übermütige Ausgelassenheit ließ einen Wachmann aus einer Nebenstraße herbeieilen. Er hob seine Laterne, um in die Gesichter der johlenden Bande zu leuchten. Das erwies sich als Fehler. Mit einem Aufschrei stürzte die Gruppe geschlossen vorwärts und umringte den Mann, in der eindeutigen Absicht, sich der Lieblingsfreizeitbeschäftigung betrunkener, aristokratischer Jugendlicher zu widmen: den Wachmann zu verprügeln.
Marcus, der sowieso schon vor Ärger kochte, brauchte nur noch diesen Vorfall, um vor Wut zu explodieren. Er stürmte mitten in die Gruppe hinein, seinen Spazierstock schwingend, bis er den zu Boden gestürzten Wachmann erreicht hatte. Einer der jungen Männer - ein Bursche mit hochrotem Kopf und blutunterlaufenen Augen - schwenkte eine leere Weinflasche gegen den stockschwingenden Spielverderber. Lange, schlanke Finger packten sein Handgelenk und ließen ihn vor Schmerz zusammenzucken. Der Marquis starrte ihn schweigend an. Sein Griff verstärkte sich weiter, bis der junge Mann scharf nach Luft schnappte und die Flasche auf das
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