Bleib ungezaehmt mein Herz
Judith wieder das alte, vertraute Prickeln der Erregung, das berauschende Hochgefühl, wenn sie an das alles entscheidende Spiel dachte.
Sebastian kam am frühen Vormittag. Er begrüßte Judith kurz, schlüpfte aus seinem Mantel und setzte sich dann in Hemdsärmeln ihr gegenüber an den Tisch, ein neues Kartenspiel öffnend. »Laß uns den Code für die Asse noch einmal durchgehen. Deine Bewegung für Pik ist ziemlich ähnlich der, die du für Herz machst. Ich möchte sehen, ob wir sie nicht unterschiedlicher gestalten können.«
Judith nickte und griff nach ihrem Fächer.
Sie arbeiteten kontinuierlich bis zum Mittag, veränderten die Geheimcodes der Signale geringfügig, dann spielten sie Schach, bis Gregson verkündete, daß der Lunch serviert sei. Marcus betrat das Eßzimmer, wo seine Frau und ihr Bruder in nervösem Schweigen überbackene Austern und kaltes Huhn verzehrten.
»Wenn ich euch beide nicht besser kennen würde, hätte ich glatt das Gefühl, in einen Streit hineingeraten zu sein«, bemerkte Marcus, während er seinen Teller füllte.
»Nein, nein.« Judith brachte ein Lächeln zustande. »Wir haben nur jeder unseren eigenen Gedanken nachgehangen. Wie war dein Morgen?«
Marcus fing von einer Geschichte an, die er bei Brook's gehört hatte, um gleich darauf festzustellen, daß weder Judith noch Sebastian ihm zuhörten. Er hielt inne, wartete darauf, daß einer von ihnen bemerkte, daß er die Geschichte noch nicht beendet hatte, doch als keine Reaktion kam, zuckte er nur die Achseln und wandte seine Aufmerksamkeit seinem Essen zu.
»Speist du heute abend zu Hause, Ju?« fragte Sebastian schroff.
»Nein, bei den Henleys«, antwortete sie. »Isobel gibt eine Dinnergesellschaft vor dem Ball.«
»Oh, gut.« Marcus füllte erneut sein Glas und lächelte ihr über den Tisch hinweg zu. »Der Gedanke, daß du allein essen müßtest, hat mir nicht sonderlich behagt, mein Luchs.«
»Oh, gewöhnlich kann ich ein solches Schicksal umgehen, wenn ich es will«, sagte sie mit hochgezogenen Brauen. »Ich bin nicht auf die Gesellschaft meines Ehemannes angewiesen.«
Normalerweise wäre die Bemerkung scherzhaft gewesen, aber aus irgendeinem Grund spürte Marcus eine seltsame Anspannung in ihrer Stimme, und ihr Lächeln schien verkrampft. Vielleicht hatte sie sich tatsächlich mit Sebastian gestritten.
»Hast du heute nachmittag etwas Wichtiges vor, Judith, oder möchtest du mit mir im Richmond Park ausreiten? Es ist so ein herrlicher Nachmittag«, fragte Marcus am Ende der Mahlzeit.
Sie schüttelte den Kopf. »Ein andermal würde ich mit Vergnügen mitkommen, aber für heute nachmittag haben Sebastian und ich schon Pläne, die wir unmöglich aufschieben können.«
»Ach so.« Er warf seine Serviette auf den Tisch, verbarg seine Enttäuschung und Verwirrung hinter einer gleichmütigen Miene. »Na, dann überlasse ich euch euren Plänen.«
»Puh!« flüsterte Judith, als sich die Tür leise hinter Marcus schloß. »Ich wollte nicht so abweisend klingen, aber ich wußte auch nicht, welche andere Entschuldigung ich hätte Vorbringen können.«
»Nach dem heutigen Abend wirst du keine Entschuldigungen mehr brauchen.« Sebastian schob seinen Stuhl zurück. »Und nun laß uns wieder an die Arbeit gehen.«
Gegen fünf Uhr waren sie sicher, alle Eventualitäten berücksichtigt zu haben, waren sämtliche möglichen Kartenkombinationen, die durch Geschicklichkeit und Erfahrung zustande kommen konnten, durchgegangen. Sie wußten, wie Gracemere spielte, wenn er korrekt spielte, und Sebastian wußte auch, welche Tricks er bevorzugte, wenn er betrog. Sie hatten jetzt ein eigenes System entwickelt, das die markierten Karten des Earls schlagen würde.
»Wir haben uns nach besten Kräften vorbereitet«, verkündete Sebastian schließlich. »Wir können natürlich den Zufall nicht ganz ausschließen.«
»Er ist ein Spieler, der Blut gerochen hat«, erwiderte Judith. »Wir wissen, wie dieser Wahnsinn ist. Wenn es ihn erst einmal gepackt hat, wird er nicht eher aufhören, bis er am Endpunkt angelangt ist. Er... oder du.«
»Ich werde es nicht sein«, sagte ihr Bruder mit ruhiger Zuversicht.
»Nein.« Judith streckte ihm die Hand hin. Sie faßten einander bei den Händen in schweigender Übereinkunft, die sowohl ein Versprechen als auch Entschlossenheit beinhaltete. Dann beugte Sebastian sich vor, küßte Judith auf die Wange und ging. Judith lauschte einen Moment auf das Geräusch seiner Schritte auf der Treppe, bevor sie
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