Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
männlichen Personen, die Sie kennen, auf eine Liste schreiben.«
Miriam nickte. »Das wird eine kurze Liste.«
»Umso besser. Aber fassen Sie sie lieber weiter als zu eng. Nehmen Sie auch Personen auf, die Sie zwar regelmäßig sehen, aber streng genommen eigentlich nicht kennen. Auf der Arbeit, beim Einkaufen, beim Training, in allen möglichen Alltagssituationen.«
»Sie glauben, er hat mich ganz bewusst ausgesucht, oder? Das war kein Zufall da draußen auf der Landstraße.«
»Es sieht so aus, ja«, sagte Anou. Warum sollte sie der Frau etwas vormachen. Dafür war die Sachlage viel zu offensichtlich. Die nächste Frage lag damit natürlich auf der Hand, und Miriam stellte sie auch sofort.
»Wird er es noch einmal versuchen?«
Diesmal antwortete Nele. »Das ist sehr unwahrscheinlich. Solche Männer suchen Opfer, und das sind Sie nicht. Sie haben ihm gezeigt, dass Sie sich wehren können.«
»Leben Sie allein hier?«, fragte Anou.
»Ja. Seitdem mein Großvater vor einem Jahr verstorben ist, bin ich hier allein. Ich weiß, es ist alles ein bisschen groß und alt … Ich bin einfach noch nicht dazugekommen zu renovieren.«
Da schwang noch eine Menge Trauer mit, fand Anou.
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn für die nächsten zwei, drei Tage eine Beamtin herkommt? Nur zur Sicherheit. Sie müsste aber irgendwo schlafen können.«
»Betten gibt es hier mehr als genug, aber meinen Sie wirklich, dass das notwendig ist?«
»Wie gesagt, nur zur Sicherheit. Wir müssen ja kein Risiko eingehen, wenn es sich vermeiden lässt.«
»Ich würde mir gern sofort diesen Trainer vornehmen«, sagte Nele, als sie zurück auf der Landstraße waren. »Wie heißt der doch gleich?«
Anou, die auf dem Beifahrersitz saß, holte ihren Notizblock aus der Innentasche ihrer Jacke und blätterte darin.
»Cem Özdan«, antwortete sie schließlich. »Ich hab den Eindruck, die beiden haben was miteinander laufen.«
»Tatsächlich?«
Anou nickte. »Gerade erblühende Liebe, ist das nicht romantisch? Ich ruf den Casanova mal an.«
Im Krankenhaus hatte sie von Miriam Singer die Privatnummer ihres Trainers bekommen, doch dort meldete sich niemand. Also rief sie bei seinem Arbeitgeber an, einem großen Fitnessstudio in der Stadt. Am Empfang sagte man ihr, dass Cem gerade den Power-Box-Kurs gebe und frühestens in einer halben Stunde zu sprechen sei.
»Passt genau«, sagte Nele. »Da fahren wir jetzt hin.«
Sie erreichten das Studio in der Industriestraße nach fünfundzwanzig Minuten. Es befand sich in dem Gebäude einer ehemaligen Molkerei. Der Parkplatz war ziemlich voll, und als sie auf den Eingang zugingen, kam ihnen eine Horde junger Frauen entgegen, alle mit geschulterten Sporttaschen, hochroten Köpfen und verschwitztem Haar.
»… Wieder klasse heute … Süßer Typ …«, hörte Anou aus dem Stimmengewirr heraus.
»Jede Wette, die waren bei Cem«, sagte sie.
Am Empfang wies man ihnen den Weg zu einer kleinen Halle. Darin roch es nach Anstrengung und Schweiß. Nur eine einzige männliche Person befand sich dort.
»Cem Özdan?«, fragte Anou.
»Ja?« Der junge Türke drehte sich um.
Er war damit beschäftigt, schmale rote Boxsäcke von Ketten zu nehmen, die von der Decke baumelten.
Nele und Anou gingen zu ihm, zeigten ihre Ausweise und stellten sich vor.
Cem Özdan war eins achtzig groß und äußerst athletisch gebaut. Er trug ein eng anliegendes Muskelshirt und eine schwarze Gymnastikhose, die wie eine zweite Haut saß. Sein Haar war schwarz und voll, die Augen dunkel und groß. Schweiß lief von seiner Stirn herab.
»Geht es um Miriam?«, fragte er.
»Richtig«, antwortete Anou. »Sie haben Frau Singer aus dem Krankenhaus abgeholt und nach Hause gefahren?«
»Ja. Bin deswegen zehn Minuten zu spät zum Kurs gekommen.«
Anou bemerkte, dass der junge Türke ohne jeden Akzent sprach.
»Die Damen werden es Ihnen nicht übelgenommen haben. Die wirkten alle sehr glücklich.«
Cem Özdan lächelte verlegen. »Sport setzt Endorphine frei. Glückshormone. Deswegen macht er auch süchtig.«
»Ist Frau Singer süchtig danach? Trainiert sie deshalb so häufig Selbstverteidigung bei Ihnen?«
Cem Özdan schüttelte den Kopf. »Da geht es um etwas anderes«, sagte er und zeigte auf den Boxsack rechts neben sich. »Darf ich die weiter abnehmen? In einer halben Stunde beginnt Powerslide, dann muss die Halle hergerichtet sein.«
»Ja, machen Sie nur.«
Cem klickte den Boxsack aus dem Drehkarabiner, stellte ihn auf dem Boden
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