Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
ab und wandte sich dem nächsten zu. An seinen Armen und Schultern spielten die Muskeln. Er schien kein Gramm Fett an seinem Körper zu haben.
»Beim Powerboxen gehen wir bis an die Grenzen«, sprach er dabei weiter. »In dem Bereich werden die Endorphine ausgeschüttet, von denen ich sprach. Beim Antiterrorkampf ist das anders. Da werden Techniken und Strategien vermittelt und das Selbstvertrauen gestärkt.«
»Ist Frau Singer gut darin?«
»Eine der Besten … Sonst wäre sie dem Täter ja nicht entkommen. In so einer Situation einen klaren Kopf zu bewahren, das schafft man nur mit Training. Miriam ist zäh, hat sehr viel Disziplin und …«
Anou bemerkte, wie sich Cems Augen veränderten und sich ein kleines Lächeln in seine Mundwinkel stahl, während er von Miriam sprach.
»Und was?«, fragte sie.
»Na ja, manchmal ist sie etwas übermotiviert, und deshalb denke ich, es gibt bei ihr andere Gründe für das häufige Training.«
»Was meinen Sie?«, fragte Anou.
Cems Blick wurde wieder ernst. »Ich weiß auch nicht. Es gibt Tage, da wirkt es, als wolle sie etwas kompensieren. Dann drischt sie auf den Boxsack ein, als kämpfe sie gegen jemanden Bestimmtes.«
Er schüttelte den Kopf und wandte sich dem nächsten Boxsack zu. »Aber darum geht es ja nicht. Es geht um diesen Scheißkerl, der sie angegriffen hat, oder!«
»Richtig«, sagte Nele. »Und wir gehen davon aus, dass der Täter Frau Singer beim Training beobachtet hat. Deswegen sind wir hier. Ist Ihnen jemand aufgefallen? Frau Singer sagte etwas von neuen Kunden.«
Cem Özdan nickte. »Hat sie mir gesagt. Wir können gleich in die Anmeldeliste schauen.«
»Das Training hat aber nicht hier stattgefunden«, sagte Nele. »Wie kommt das?«
»Hier im Studio sind die Kurszeiten ausgebucht, deswegen gebe ich noch Kurse bei den Turn- und Sportvereinen, so wie den ATK-Kurs beim TSV Kirchwalsede. Ist ein guter Zuverdienst.«
»Machen Sie das hauptberuflich?«
»Nee. Ich studiere Sport und finanziere damit mein Studium. Klappt ganz gut.«
»Und was haben Sie gestern nach dem Training gemacht?«, wechselte Anou plötzlich das Thema.
Cem Özdan drehte sich zu ihr um und fixierte sie mit seinen dunklen Augen. »Warum? Verdächtigen Sie mich etwa?«
»Wir verdächtigen jeden und niemanden, solange wir den Täter nicht haben«, sagte sie.
Der junge Mann kam auf sie zu und streckte den Zeigefinger aus. Die Muskeln an seinem Hals schwollen an. »Hört sich wie Zeitverschwendung an. Suchen Sie lieber diesen Scheißkerl, bevor ich ihn finde, sonst …«
»Sonst was?«, unterbrach Anou ihn.
Cem entspannte sich etwas und lächelte. »Sonst zeige ich ihm, was Miriam noch alles drauf hat.«
Alex verließ Beckedorf und steuerte den nächstbesten Parkplatz an der Landstraße nach Lüneburg an. Bei laufendem Motor holte er die Zettel hervor, die er unter Danielas Schreibtisch gefunden hatte. Es waren drei Stück.
Ein ärztliches Rezept für ein Medikament namens Valette.
Eine Terminkarte für den 17.4. bei einem Dr. Dillenburg.
Ein handbeschriebener Notizzettel. Oben stand »Lovers World«. Darunter »darkdeepeyes«, gefolgt von einer Ziffern- und Buchstabenfolge: 92GJ8M10TDAGE.
Alex holte auch noch die Visitenkarte hervor, die er in der Jackentasche gefunden hatte.
Horst Schön. Literatur vor Ort. Katzengasse 11.
Er gab den Straßennamen ins Navigationssystem ein und verließ den Parkplatz. Mit dieser Visitenkarte hatte er endlich einen realen Anhaltspunkt, eine Adresse, hinter der ein Mensch steckte, mit dem er sich unterhalten konnte. Die anderen ominösen Notizen schienen fürs Internet gedacht zu sein, vielleicht die Zugangsdaten für einen Chatroom. Heutzutage spielte sich ein Großteil des Lebens der Teenager im World Wide Web ab. Eine Welt der Lügen, des Tarnens und Täuschens. Eine Welt, in der kaum jemand der war, für den er sich ausgab. Dagegen war so eine Adresse was Handfestes.
In der Stadt angekommen, hielt Alex an der ersten offenen Apotheke, die er fand. Die junge Frau am Notschalter verriet ihm, dass es sich bei Valette um eine Verhütungspille handelte. Damit hatte Alex gerechnet. Die Kluft zwischen Daniela und ihren Eltern musste tiefer sein, als selbst die Mutter es ahnte, sonst hätte das Mädchen das Rezept nicht verstecken müssen.
Eine Viertelstunde später suchte er in der samstäglichen Überfüllung der City einen Parkplatz für seinen großen VW-Bus. Bei der Katzengasse handelte es sich um eine Einbahnstraße, in der es
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