Bleischwer
vertrieben hatte, weil sie
die Leiter nicht besser festgehalten hatte, weil sie Oma Maiwalds Stellplatz
geerbt hatte, weil sie mit Jan fremdgegangen war und das Baby verloren hatte … Weil
sie immer zu gierig war. Alles trudelte in ihrem Kopf durcheinander wie dicke,
rote Kirschen, die vom Baum fielen und überall hinkollerten. Plötzlich sah sie
vor sich Stefan Winters totes, wächsernes Gesicht mit den stumpfen Augen, in
deren Wimpern die Schneeflocken hingen. Und da wusste sie, was falsch war an
diesem Bild mit dem wehenden Haar und den bleichen Händen.
Zu Tode
erschrocken riss sie ihre Augen weit auf. Micha, dachte sie panisch. Ich muss
zu Micha.
In dem
Moment wälzte sich Jörg stöhnend auf die Seite, schlang einen Arm um ihre Hüfte
und legte ein Knie auf ihren Oberschenkel. Es fühlte sich an wie der Arm einer
Riesenkrake, die sie umklammerte, um sie unter Wasser in den sicheren Tod zu
ziehen. Jule blieb stocksteif liegen; Panik schnürte ihr die Kehle zu. Der
Mann, der sie umarmte – ihr spießig konservativer Ehemann Jörg – war ein
Verbrecher. Einer, der aus dem Raub eines anderen Kapital schlagen wollte und
dafür nicht vor Gewalttaten zurückschreckte. Das Schlimmste daran aber war,
dass dieser Mann von der eigenen Rechtschaffenheit zu 150 Prozent überzeugt war. Jule
versuchte, Furcht und Ekel herunterzuwürgen und sich einigermaßen zu
entspannen. Sie erinnerte sich an Michas eindringliche Ermahnungen von gestern
Abend, sich im Umgang mit Jörg nichts anmerken zu lassen.
»Es
nützt uns nichts, wenn diese Rechtsverdreher Verdacht schöpfen«, hatte er ihr
eingeimpft. »Noch wissen wir nicht, wie tief sie in die Morde verstrickt sind
oder ob sie sich wirklich schon an dem Geld und den Steinen bereichert haben.
Wir brauchen mehr Informationen. Und du sitzt an der Quelle. Also, bitte vermassel
es nicht.« Er hatte sie sorgenvoll angesehen und stockend hinzu gefügt: »Du
musst ja nicht gleich mit dem Typen ins Bett steigen. Irgend eine Ausrede wird
sich wohl finden: Kopfschmerzen, Stress. Was weiß ich.«
An der
Stelle hatte sie ungewollt grinsen müssen und stichelte hinterher.
»Eifersüchtig?«
Ein
unverständliches Grummeln war die einzige Antwort gewesen.
Nun, an
diesem späten Samstagvormittag gelang es Jule, sich in Jörgs Fängen wieder
einigermaßen zu beruhigen. Er schlief weiterhin tief und fest und deshalb war
es einfach, Arm und Bein zur Seite zu schieben und sich aus dem Bett zu
schlängeln.
Mittels
der heißen, prasselnden Strahlen der Dusche spülte sie kurz darauf die letzten
Beklemmungen herunter. Frisch geföhnt und in Jeans und T-Shirt setzte sie sich
an die Küchentheke und genoss den ersten Kaffee des Tages.
Allerdings
hatte sie dabei unweigerlich die Unordnung auf dem runden Esstisch vor Augen.
Leere Pils-und Schnapsgläser, ein überquellender Aschenbecher, Ringe auf dem
dunklen Holz, zerknüllte Chipstüten und schmutzige Teller kündeten von der
gestrigen, ausgelassenen Skatrunde. Seufzend erhob sie sich, schaltete den
Fernseher an und begann, das Chaos zu beseitigen.
Der
Jingle einer Nachrichtensendung ertönte. Oh, schon zwölf, staunte sie, lauschte
dem Sprecher aber bloß mit halber Aufmerksamkeit.
Wie
üblich hatte es tote deutsche Soldaten in Afghanistan gegeben. Wie üblich
stritten die großen Parteien um Hartz IV und die Bildungsreform. Nichts Neues also.
Ihre
Gedanken schweiften ab, hingen bei Schuld, Sühne und der eigenen Bestrafung
durch die Wahl falscher Männer fest, als Jule – gerade
hatte sie die schmutzigen Gläser in der Spülmaschine verstaut – plötzlich durch eine wohlbekannte Stimme mitten in die Sendung gezerrt wurde.
Hauptkommissar
Wesselings feistes Gesicht füllte fast den Bildschirm aus. Ein großes Mikrofon
wurde vor seine fleischigen Lippen gehalten. Im Hintergrund war ein Gebäude zu
erahnen. War es die Polizeiwache in Euskirchen?
»Wir
suchen immer noch nach dem flüchtigen Michael Faßbinder«, erklärte Wesseling
gerade gewichtig. »Entgegen den Mutmaßungen der Presse gehen wir nicht davon
aus, dass er der seit 25 Jahren
gesuchte Komplize Winters bei dem Euskirchener Bankraub ist. Wir vermuten eher,
dass Faßbinder mit Hilfe eines unbekannten Dritten versucht hat, aus Winter
Hinweise auf den Verbleib der Beute zu erpressen. Als der dazu schwieg, wurde
er erschlagen, ebenso wie man Sonja Bohr aus dem gleichen Grund erstochen hat.
Faßbinder hat für beide Zeitpunkte ein Alibi, deshalb muss der ausführende
Täter ein
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