Blind vor Wut
Herbie?«
»Wenn alle sich gemeinsam anstrengen und aufstehen und zu ihrer Meinung stehen, dann müssen Sie zugeben, dass Hitler den Menschen wenigstens Arbeit verschafft hat.«
Sie nickten in weiser Zustimmung. Seit geraumer Zeit hatten sie nun schon diese kindischen Aussagen von mir gehört; sie nickten zu allem, was ich sagte, da sie ja schon wussten, was kam. Ich bin sicher, sie hätten mir auch zugestimmt, wenn ich behauptet hätte, dass Scheiße nach Sahne schmeckt.
Auf denselben Gedanken war ich manchmal bei dem wilden Gelächter gekommen, wenn ein bekannter Komiker eine vollkommen witzlose Bemerkung machte. Oder bei dem donnernden Applaus, wenn ein Kandidat für ein politisches Amt sich in einer Rede als Blödmann entpuppte. (»Fortschritt gibt es nur, wenn wir voranschreiten.«) Oder die lächerliche Freude eines Ehemanns in einer Seifenoper, wenn ihm seine Frau erzählte, dass sie schwanger sei. (Tatsächlich würde er ihr viel lieber in den Bauch treten.)
Was ich sagen will: Wenn überhaupt, dann gibt es nur eine äußerst dürftige Verbindung zwischen Bemerkung und Antwort, zwischen Aktion und Reaktion. Stärke ist die Mutter der Verzagtheit. Tugend wird als Laster angesehen. Weisheit als Irrsinn. Gesegnet sind, die all dessen beraubt sind, was sie brauchen (heißt es hier). Büßt, ihr kleinen Kinder, Punktum. Völkermord ist besser als Vanille, und solche Gasöfen werden heute einfach nicht mehr gebaut.
Dr. Barnsdall, mein Psychiater, besteht darauf, dass die Dinge nicht so sind, wie ich sie sehe. Er sagt (und ich zitiere), dass ich eine Eichel betrachte und einen ganzen Wald sehe – eine überaus unzutreffende Beschreibung meines Zustandes. Die Realität steckt in dem betrachteten Gegenstand, nicht im Auge des Betrachters, denn man kann nicht sehen, was nicht existiert. Natürlich kann das, was man sieht, auch versteckt sein. Die Fassade einer Kirche mag eine Höhle von Teufelsanbetern verbergen, deren labyrinthische Kammern die Schreie der Ungläubigen, die der Prüfung unterzogen werden, dämpfen. Eine Schule könnte in Wahrheit eine Art Prokrustes-Schlafkammer sein – ein ausgefeilter Komplex voller Gegenstände, die jeden Schüler auf dasselbe Muster zurechtstutzen und auf grausame Weise alles abscheren, was darüber hinausragt. Ähnlich ist es mit dem trauten Heim, das oft genug ein Bordell ist, mit dem Krankenhaus, das in Wirklichkeit ein Schlachthof, mit der Bank, die das Versteck von Gaunern ist. Und um abschließend ein weitverbreitetes Phänomen zu erwähnen: Wer wird leugnen, dass die intelligent wirkende Physiognomie eines Mannes recht häufig nur ein verkappter Pferdearsch ist?
Aus gutem Grund also hege ich immer größere Zweifel, was Dr. Barnsdalls Ansichten betrifft. Ich kann mich ja wohl kaum auf jemanden verlassen, der keine Ahnung von dem hat, was in seiner eigenen Praxis vor sich geht.
Ich betrat das Empfangszimmer und nannte der Schwester meinen Namen – den Namen, den ich dort verwendete, sollte ich wohl besser sagen. Sie wiederholte aus vollem Hals: »Howard Lonsdale!« – damit auch ja alle Anwesenden ihn von da ab kannten und mit Kichern und Wiehern darauf reagieren konnten. Dann wies sie mit einem dreckigen Finger in eine Richtung und brüllte: »Setzten Sie sich da drüben hin, zu all den anderen Perversen, Kriminellen und Irren!«
Ich setzte mich und dachte darüber nach, wie sehr sie doch einer Hexe glich. Sie war fast völlig blind und taub, und da sie weder lesen noch schreiben konnte, war sie noch besser für ihren Job geeignet. Ich wandte mich von dem widerwärtigen Anblick ab, sah mich um und bemerkte, dass es noch voller war als üblich.
Es befanden sich buchstäblich Tausende von Menschen in dem Raum, sie lagen auf dem Boden, saßen auf dem Schoß von anderen, fünfzehn bis zwanzig Mann standen sich gegenseitig auf den Schultern; sie baumelten am Kronleuchter, hingen am Querbalken und linsten hinter Stühlen hervor. Sie hatten keine Gesichter – nur Augen. Und alle Augen waren auf mich gerichtet. Sie kniffen, schlugen und traten sich. Sie trieben es miteinander, masturbierten, kotzten und pinkelten – und die ganze Zeit beobachteten sie mich. Ich machte mich auf dem Stuhl ganz klein, schloss die Augen und hob die Füße vom Boden, um der steigenden Flut ihrer teuf lischen Ausscheidungen zu entkommen. Eine Schwester kam zu mir, berührte mich sanft an der Schulter und nannte leise meinen Namen.
Eine andere Schwester, nicht die Hexe, auch wenn sie ihr
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