Blinde Seele: Thriller (German Edition)
Und doch war Grace dankbar, dass dieses arme, leidende Kind ihr so weit vertraut hatte.
Fast eine Minute verstrich schweigend. Grace saß still da und wartete.
»Dann beschloss ich, wieder nach Hause zu gehen«, sagte Felicia schließlich. »Ich hatte keine Lust, zur Schule zu gehen. Ich würde sowieso zu spät kommen und mich erklären müssen, und ich hasste es, wie ich mit meiner Mom auseinandergegangen war. Ich wollte nicht stundenlang warten, um mich mit ihr zu versöhnen, verstehen Sie?«
»Oh ja«, sagte Grace. »Das verstehe ich gut.«
»Wenn ich damals sofort zurückgegangen wäre, dann wäre jetzt vielleicht noch alles in Ordnung«, fuhr Felicia fort. »Aber in der Nähe von diesem Café war ein Telefonladen, und ich hatte mein altes Handy satt, deshalb bin ich hineingegangen und hab dort eine Weile herumgehangen, bis ich wusste, dass ich wirklich bereit war, nach Hause zu gehen.«
Grace wartete wieder.
»Unterwegs fühlte ich mich erschöpft«, sagte Felicia. »Mir war heiß, und mir war schlecht, und mein Magen war verkrampft, weil ich wusste, ich würde klein beigeben müssen. Und ich habe es immer gehasst, mich bei meiner Mom zu entschuldigen.« Ihre Lippen bebten. »Und jetzt werde ich mich nie wieder bei ihr entschuldigen können.«
Sie stand auf, mit langsamen, trägen Bewegungen.
Grace hielt den Atem an. Sie befürchtete, Felicia könnte aufhören.
Doch fast ebenso sehr befürchtete sie, dass das Mädchen weitererzählte.
Felicia trat ans Fenster.
Mit der Sonnenbrille musste es so gut wie unmöglich für sie sein, draußen in der Dunkelheit etwas zu erkennen, aber Grace hatte das Gefühl, dass Felicia ohnehin ins Nichts starrte.
Zurück in die Vergangenheit.
Zu jenem Morgen.
126.
Als Sam die Tür zu dem Zimmer im hinteren Teil des Hauses öffnete und Billie sah, wurde er von Verzweiflung beinahe erschlagen.
Verzweiflung und Wut.
Er war zu spät.
Ihre Augen waren abgedeckt.
Diesmal waren es Verbände.
Dieselben, mit denen die mörderischen Schwestern Billie ans Bett gefesselt hatten.
Nur …
Es gab kein Blut.
Das bemerkte Sam einen Sekundenbruchteil, bevor Billie zu schreien begann.
Das Geräusch hallte in Sams Ohren wider. Es war ein grauenhafter Laut abgrundtiefen Entsetzens, hinter einem Leukoplastknebel hervorgestoßen, denn Billie war am Leben , und sie hatte bemerkt, dass jemand ins Zimmer gekommen war.
Und nun glaubte sie, sterben zu müssen.
»Keine Angst, Billie, ich bin’s, Sam«, sagte er laut und deutlich. »Es ist alles gut. Du bist in Sicherheit.«
Das Schreien verstummte, ihr Körper versteifte sich.
»Ich bin’s, Billie. Ich werde nur kurz deinen Arm berühren, okay?«, sagte er.
Er legte ihr ganz sanft die Hand auf den rechten Unterarm. Sie zuckte zusammen und schrie auf.
»Keine Angst, Billie. Ich muss nur rasch ein paar Fotos machen, als Beweise, dann werde ich dir das Leukoplast vom Mund nehmen. Ich werde versuchen, dir nicht wehzutun.«
Er machte rasch drei Fotos, dann zog er ganz vorsichtig das Klebeband von Billies Mund.
Sie schnappte nach Luft und begann zu schluchzen.
»Ja, wein ruhig, Billie«, sagte Sam. »Lass es raus.«
»Ich kann nichts sehen .«
Eine Woge des Entsetzens erfasste ihn.
Bilder von Beatriz Delgado und Amelia Newton.
Kein Blut, aber …
Sein Mund war wie ausgedörrt.
»Du hast einen Verband über den Augen, Billie.« Er sprach mit fester Stimme. »Haben sie irgendwas damit gemacht? Mit deinen Augen, meine ich.«
»Ich glaube nicht.« Es war kaum mehr als ein Flüstern. »Ich glaube nicht.«
»Ich werde den Verband jetzt abnehmen.«
Angst stieg in Wellen von ihr auf und vermischte sich mit seiner eigenen. Sam schickte ein stilles Gebet zum Himmel, während er behutsam die Augenbinde entfernte. Billies Augenpartie sah äußerlich unversehrt aus, aber die Augen waren fest zusammengepresst, und ihre Wimpern bebten.
»Mach die Augen auf, Billie«, sagte Sam.
Sie gehorchte. Noch waren ihre Augen getrübt von Panik, doch sie waren schön wie immer, die Pupillen groß, das Weiße gerötet. Aber sie waren unverletzt, und sie blickten ihn an, und Billie war am Leben …
»Gott sei Dank«, sagte er. »Deine Augen sind in Ordnung, und du bist in Sicherheit, und es ist alles vorbei.«
Er zückte sein Taschenmesser und befreite sie von den Fesseln, wobei er sich fragte, ob Kate ihr das angetan hatte oder Toni, oder ob es Teamarbeit gewesen war.
Billie zitterte am ganzen Körper.
»Es tut mir leid.« Sam rieb ihre befreiten
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