Blinde Zeugen: Thriller
die am Boden festgeschraubt waren, während der Zug schwankend und ratternd durch Polen zockelte.
»Bis wir in Krakau ankommen, ist es zu spät, um noch jemanden zu erreichen«, sagte Jaroszewicz, »deswegen sollten wir gleich morgen früh loslegen. Wir gehen zu den Kollegen vor Ort und bitten sie um Informationen.«
»Informationen?«
»Die Adressen der Krakauer Opfer.« Sie nahm noch einen Schluck von dem Bier mit dem unaussprechlichen Namen. »Die einzigen Unterlagen, die ich in Warschau bekommen konnte, sind veraltet. Sie …« Sie brach ab, als eine lächelnde Frau mit Schürze ihr Essen an den Tisch brachte – panierte Hähnchenschnitzel, Kartoffelpüree mit Dill und saure Gurken. Serviert auf Papptellern mit Plastikbesteck.
Welten entfernt von den Sandwiches von British Rail.
Draußen ging die Sonne unter – ein großer roter Feuerball, der in der Lücke zwischen den Wolken und den Feldern aufblitzte. Ihre goldenen Strahlen fielen auf ein dreistöckiges Haus, ganz aus Hohlblocksteinen erbaut, das einsam auf weiter Flur stand.
Logan lud sich noch einen Klumpen Püree auf die Gabel. »Wenn die Unterlagen so veraltet sind, woher wissen Sie dann, dass die Opfer noch leben?«
»Das weiß ich eben nicht.« Sie sah Logans Gesichtsausdruck und lachte. »Entspannen Sie sich – sie können nicht alle tot sein. Ich habe gestern mit dem Komisarjat Policji gesprochen: Es gibt zumindest einen, von dem sie kürzlich noch gehört haben. Und jetzt essen Sie Ihr Schnitzel.«
Das Erste, was sie von Krakau sahen, war der Name des örtlichen Fußballclubs, der mit roter Farbe auf ein baufälliges Gebäude neben den Bahngleisen gesprüht war, gerade noch zu erkennen im schwindenden Licht der untergehenden Sonne. Das ferne Funkeln von erleuchteten Fenstern wich riesigen Wohnblocks aus Beton, während im Hintergrund die Schornsteine eines gewaltigen Stahlwerks in den Himmel ragten, gekrönt mit blinkenden roten und weißen Lichtern als Warnung für Flugzeuge.
Es folgten Kilometer über Kilometer mit dicht gepackten Häusern und Wohntürmen, die unter der Last der dicken grauen Wolken zu stöhnen schienen.
Die Studenten wagten sich noch einmal ins Abteil zurück, um ihr Gepäck zu holen und noch ein bisschen zu motzen, während der Zug in den Bahnhof einfuhr. Aber um Polizeihauptmeisterin Jaroszewicz in die Augen zu sehen, reichte ihr Mut nicht ganz.
Logan folgte ihr nach draußen. Ein kalter Windstoß fegte eine weggeworfene Zeitung vom Bahnsteig hoch und jagte sie über die endlose graue Betonfläche. Warschau war deprimierend gewesen, und im Moment sah Krakau auch nicht viel besser aus.
Das Taxi setzte sie vor einem Hotel in der Altstadt ab, in einer belebten Straße mit Bars und Dönerbuden. Die hohen Häuser und engen Straßen hielten den Wind weitgehend ab, und es war beinahe mild. Touristen spazierten in T-Shirts und kurzen Hosen im Dämmerlicht umher und fotografierten eifrig.
Logan konnte es ihnen nicht verdenken – es war wirklich ziemlich beeindruckend; ganz so, wie man sich eine alte osteuropäische Stadt vorstellte. Kopfsteinpflaster, reich verzierte Fassaden … ein bisschen wie die Kulisse eines Sechzigerjahre-Gruselfilms. Nun ja, abgesehen von den ganzen Neonreklamen und den blitzenden Fotoapparaten.
Jaroszewicz drückte das schmiedeeiserne Tor auf und betrat das Hotel, und nach kurzem Zögern folgte Logan ihr. »Also, wie sieht denn das Programm für den Abend aus?«, fragte er in der leisen Hoffnung, dass es irgendetwas mit Bier zu tun hätte.
Sie blies die Backen auf und machte ein Geräusch wie ein angestochener Reifen. »Ich werde ein Bad nehmen und dann ins Bett gehen.« Sie sah auf ihre Uhr. »Wir können uns um acht Uhr zum Frühstück treffen.«
Oben in seinem Zimmer zog Logan die Gardinen auf und blickte auf die Straße hinunter. Er hatte schon alles ausgepackt und verstaut, mit dem Zimmersafe herumgespielt, den Inhalt der Minibar in Augenschein genommen, darüber nachgedacht, die kleinen Plastikfläschchen mit Shampoo und Haarspülung zu klauen, und sämtliche Sightseeing-Prospekte gelesen.
Und dann fiel ihm ein, dass er sein Handy wieder einschalten sollte. Er hatte drei Nachrichten von DI Steel, die dringend um einen Rückruf bat.
Er sah auf seine Uhr: halb zehn. Das hieß, dass es zu Hause jetzt halb neun war. Er wählte Steels Nummer, lehnte sich mit der Stirn an die Fensterscheibe und sah zu, wie zwei betrunkene Mädels unten aus einem Laden torkelten, dem Anschein nach eine
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