Blinde Zeugen: Thriller
zwischen einem Sattelschlepper und einem Telekom-Transporter. »Sie hatten Glück, dass ich rechtzeitig aufgetaucht bin«, sagte sie, während sie wieder auf die rechte Spur wechselte. »Radoslaw hätte Sie bis auf den letzten Heller ausgenommen.«
»Ich hatte nicht vor –«
»Er treibt sich am Flughafen rum, spielt den hilfsbereiten alten Taxifahrer, und wenn Sie mit ihm fahren, landen Sie am Ende auf der falschen Flussseite.«
»Also kein besonders guter Taxifahrer?«
»Nein, es sei denn, es macht Ihnen Spaß, mit vorgehaltener Waffe ausgeraubt zu werden. Wir glauben, dass er im Monat zwei bis drei Touristen abzockt, aber nachweisen können wir ihm nichts.«
Ein Blitz zuckte über den schlammfarbenen Himmel und tauchte die Bäume und die hässlichen Gebäude zu beiden Seiten der Straße in ein grelles Licht. Dann folgte das tiefe Bassgrollen des Donners.
Polizeihauptmeisterin Jaroszewicz reckte den Kopf über das Lenkrad. »Verdammter Regen. Wo ist bloß der Sommer geblieben?«
Sie ließ eine Schimpftirade auf das Wetter im Allgemeinen und im Besonderen folgen, aber Logan hörte nicht richtig zu – er war zu sehr damit beschäftigt, sich ängstlich an den Haltegriff zu klammern, während sie wild die Spuren wechselte.
Jemand hupte sie an, doch Jaroszewicz ignorierte es. »Ich habe mir die Akten noch einmal angesehen. Wir hatten dreiundzwanzig Opfer seit 1974; die meisten Fälle ereigneten sich, nachdem wir die Kommunisten in die Wüste geschickt haben. Ich habe alles dabei, was ich finden konnte; Sie können es im Zug lesen.«
»Im Zug? Ich dachte, wir fahren –« Er kniff die Augen zu, als urplötzlich das Heck eines Lastwagens vor ihnen auftauchte. »O Gott.«
Die Reifen quietschten auf der nassen Straße. Jaroszewicz drückte auf die Hupe: TRÖÖÖÖÖÖÖÖT! »Arschloch! Willst du uns alle umbringen?«
Und dann überholte sie rechts und zeigte der alten Dame am Steuer des Lasters den Stinkefinger. »In Warschau gibt es keine überlebenden Opfer mehr, deshalb fahren wir nach Krakau.«
»Können Sie vielleicht ein bisschen langsamer fahren?«
»Nein.«
Logan versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie sein Körper aussehen würde, wenn es der polnischen Feuerwehr endlich gelänge, ihn aus dem Wrack herauszuschneiden. »Was ist mit den anderen Opfern?«
»Alle tot. Bei dem einen war es ein Unfall, andere wurden krank, wieder andere sind an Altersschwäche gestorben, und ein paar haben sich das Leben genommen.« Sie zuckte mit den Achseln. »Muss schwer sein, damit zu leben.«
Die gesichtslosen Wohnblocks aus der Zeit des Kommunismus blieben zurück und gaben den Blick auf das Zentrum von Warschau frei. Wolkenkratzer beherrschten das Bild, riesige Klötze aus Glas und Stahl, die sich in den verregneten Himmel reckten. Im Hintergrund thronte ein großes Marriott Hotel; die sieben obersten Stockwerke waren eine einzige Lichtreklame, die ihre wechselnden Botschaften über die düstere, regennasse Stadt aussandte. Die übrigen Hochhäuser waren nicht ganz so geschmacklos, aber neben dem gewaltigen Kulturpalast verblasste alles andere zur Bedeutungslosigkeit: eine monströse Hochzeitstorte aus regengeschwärztem Sandstein, die die ganze Skyline beherrschte.
Jaroszewicz musste gesehen haben, wie er das Ding anstarrte, denn sie erklärte: »Ein Geschenk von Väterchen Stalin. Haben Sie Hunger?«
»Ein bisschen. Wollen wir –«
»Wir essen im Zug.«
Der Kulturpalast erhob sich in der Mitte eines weiten Platzes, umgeben von Gebäuden, die aussahen, als hätte ein Stadtplaner sie nach ein paar Wodkas zu viel ausgekotzt. Und je näher sie Väterchen Stalins Geschenk kamen, desto langsamer kamen sie voran, bis sie sich schließlich nur noch im Schne ckentempo vorwärtsbewegten. Der Regen trommelte aufs Dach, und die Scheibenwischer schufteten im Akkord, während die Menschen auf dem Gehsteig an ihnen vorüberhasteten.
Alle sahen akut selbstmordgefährdet aus.
Aberdeen im Regen konnte deprimierend sein, aber das war gar nichts im Vergleich zu Warschau.
Jaroszewicz riss das Steuer herum, fuhr mit quietschenden Reifen an einer roten Ampel vorbei und schlängelte sich durch eine enge Gasse. Sie kamen im Hinterhof eines vorsintflutlich aussehenden Hotels heraus, wo sie neben den Mülltonnen parkte.
»So«, sagte sie, während sie hinter sich griff und eine große Schultertasche vom Rücksitz wuchtete, »jetzt sind wir am Bahnhof.«
Sie holten Logans Gepäck aus dem Kofferraum und stapften im
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