Blinde Zeugen: Thriller
und Kreditwucher sein Geld verdient, als Königin Victoria noch auf dem Thron saß. Er wurde ›Big Hamish‹ genannt. Unter seinem Sohn – ›Hamish junior‹ – kamen noch Schmuggel und Prostitution hinzu.«
Sie steckte sich eine Zigarette in den Mundwinkel und kratzte sich unter dem Arm. »Tja, und mit dem Tod seines Vaters hat Wee Hamish auf einen Schlag ein über zwei Generationen aufgebautes Verbrechensimperium geerbt. Dann kommt das Öl, und alle haben plötzlich die Taschen voller Geld. Wee Hamish expandiert in den internationalen Markt. Und wir kommen ums Verrecken nicht an ihn ran.«
»Aber nach so langer Zeit müsste er doch längst mal bei irgendetwas erwischt worden sein.«
»Vergiss es – Bain ist schon hinter Wee Hamish Mowat her, seit ich denken kann. Der Typ, der vor ihm das CID geleitet hat, war fünfzehn Jahre an der Sache dran. Und sein Vorgänger auch, und dessen Vorgänger auch. Oben im Büro des Chief Constable steht eine Flasche dreißig Jahre alter Knockdhu, der ist für denjenigen reserviert, der Mowat schnappt. Basher Brooks war am dichtesten dran, 1975 war das – Überfall auf ein Postamt. Der einzige Zeuge ist verschwunden, und die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren eingestellt. Keine Beweise.«
Logan wusste, was das bedeutete. »Die Schweinefarm.«
»Genau, die Schweinefarm.« Sie blies eine lange Rauchfahne über den Schreibtisch. »Und jetzt troll dich nach Hause, bevor sonst noch jemand merkt, dass du hackedicht bist!«
Logan zuckte mit den Achseln und hievte sich in die Senkrechte. Er unterdrückte ein Gähnen und rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. »Soll ich heute Abend noch mal vorbeikommen?«
»Nach der Vorstellung von gestern Abend? Nein danke, ich verzichte.«
Logan war es nur recht. Er schnappte sich seine Jacke und ging zur Tür. In der Wohnung wartete eine halbe Flasche Wodka auf ihn.
Steel rief ihm nach: »He! Falls du doch was über Wee Hamish rausfindest, sag mir Bescheid. Vielleicht teil ich sogar den Whisky mit dir.«
58
Jemand sagte: »Wach auf!«
Logan fuhr hoch und strampelte mit Armen und Beinen die Bettdecke weg. Dann tat es einen dumpfen Schlag, und er lag auf dem Boden. In seinem eigenen Schlafzimmer. In seiner eigenen Wohnung. Nicht in einem Trümmerhaufen irgendwo in Polen.
»Mein Gott, du bist ja klatschnass …« Samantha kniete sich neben ihn auf den Boden und strich mit der Hand über seine Brust. Schweißperlen rannen durch das zerklüftete Narbengelände.
Er holte zitternd Luft. »Scheiße …«
»Du hast geschrien.«
»O Gott …«
Sie ließ ihren Finger weiter nach unten gleiten, fuhr die kleinen Wülste aus Narbengewebe nach. Die Hinterlassenschaften des Messers.
Logan ergriff ihre Hand. »Mach das bitte nicht, okay? Bitte … lass es einfach.«
Samanthas Stimme verlor sich in der Dunkelheit. »Ich bin kein Freak.«
Jetzt ging das schon wieder los.
Logan stöhnte. »Können wir das jetzt bitte lassen?«
»Ich dachte, du würdest das verstehen … als ich … als ich dich meine Narben hab fühlen lassen.« Es war lange still, und er registrierte, wie sie sich aufrichtete und auf die Kante der Matratze setzte. »Ich hab damit angefangen, als ich zwölf war – mit dem Ritzen. Nie an einer Stelle, wo es jemand sehen konnte, aber … Weiß auch nicht, wieso; damals fand ich es irgendwie sinnvoll.«
Logan sah sie an, wie sie da im schwachen grünen Schein des Radioweckers saß. Es war kurz nach drei Uhr früh.
Samantha schniefte und schlang die Finger ineinander. »Es war ja nicht so, als ob meine Eltern mich geschlagen hätten oder so, es ist bloß … ich weiß nicht. Die Schnitte haben so glänzende Spuren auf meiner Haut hinterlassen. Verstehst du, was ich meine?«
Sie griff in das Fleisch an der Innenseite ihres Oberschenkels und inspizierte die schwarze Tinte der Ethno-Spinne. »Sobald ich alt genug war, hab ich angefangen, mir Tattoos drübermachen zu lassen.«
»Sam –«
»Und dann hab ich deine gesehen und mir gedacht … Ich hab gedacht, es würde uns … verbinden oder so.« Sie zuckte mit den Achseln und ließ sich seitwärts auf das Bett sinken. »Blöd, nicht wahr?«
Er kroch zu ihr auf die Matratze. »Seien wir doch ehrlich: Du bist ein Freak, und ich bin auch einer. Es gibt gar keine normalen Menschen. Das ist ein Mythos, den wir Freaks in die Welt setzen, um uns zu quälen. Noch so eine Erwartung, der wir nicht gerecht werden können.«
Sie boxte ihn in den Arm. »Ich bin kein Freak.« Aber er
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