Blinder Stolz: Thriller (German Edition)
intellektuelle Art. Der Bibliothekarinnentyp, aber mit Potenzial.«
»Verstehe. Und wie ist sie sonst so?«
»Charakterlich?«
In der Hoffnung, die dumpfen Kopfschmerzen zu vertreiben, löste Berry ihren Zopf und schüttelte ihr Haar. Außerdem war sie völlig erledigt. Sie fühlte sich verkatert und lethargisch, ihre Augen brannten vom Schlafmangel und von den Tränen, die die ganze Zeit über direkt unter der Oberfläche gelauert hatten. Die Sonne ging auf, doch auch das vermochte ihre Lebensgeister nicht zu wecken. Vielmehr erschien ihr der Sonnenaufgang wie der blanke Hohn.
»Ist Ms Buckland ein umgänglicher Mensch? Geht sie auf andere Menschen zu? Oder ist sie eher schüchtern?«
»Eher introvertiert. Als schüchtern würde ich sie allerdings nicht bezeichnen. Sie ist ziemlich gewissenhaft, will es allen recht machen. Deshalb hat sie sich so schwer damit getan, Oren einen Korb zu geben.«
»Klatscht sie gern?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Lügt sie?«
»Auch nicht.«
»Ist sie eifersüchtig? Boshaft?«
»So habe ich sie nie erlebt.«
»Weshalb hat sie dann so beharrlich behauptet, Sie würden im Hinblick auf Oren Starks lügen? Es steht doch völlig außer Frage, dass alles, was Sie über ihn erzählt haben, der Wahrheit entspricht. Sie haben ihn sogar noch unterschätzt.«
»Leider«, flüsterte sie.
»Sie dürfen sich deswegen keine Vorwürfe machen.«
»Ich kann aber nicht anders. Ich hätte ihn niemals anrufen dürfen.«
Voller Dankbarkeit registrierte sie, dass er nicht weiter darauf einging. Dabei hätte er jedes Recht gehabt, ihr aufs Brot zu schmieren, wie idiotisch ihr Verhalten gewesen war.
»Wenn Sally Buckland ähnliche Erfahrungen mit Oren Starks gemacht hat wie Sie, wieso sollte sie mir dann das genaue Gegenteil erzählen? Das frage ich mich schon die ganze Zeit. Sie hat behauptet, dass Sie lügen, noch bevor ich das Wort Stalker auch nur aussprechen konnte.«
»Es tut mir leid«, sagte Berry aufrichtig. »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, weshalb Sally lügen sollte, weil es ihr so gar nicht ähnlich sieht. Vielleicht wollte sie ja nicht in die Sache hineingezogen werden. Ich habe keine Ahnung. Eins kann ich aber mit Gewissheit sagen: Oren war der Grund, weshalb sie bei Delray gekündigt hat.«
»Was mich wieder zu der Frage zurückbringt, weshalb sie deswegen lügen sollte.« Frustriert fuhr er sich mit den Fingern durchs Haar. »Diese ganze Unterhaltung mit ihr war …«
»Was?«
»Merkwürdig. Fragen Sie mich nicht, wieso, aber es war so. Ich habe jemanden aus dem Büro des Sheriffs von Harris County zu ihr geschickt, damit er ihr dieselben Fragen noch mal stellt und sieht, wie sie reagiert, aber sie war nicht zu Hause. Ich habe mehrmals versucht, sie anzurufen. Es geht niemand ran. Wissen Sie, wo sie jetzt arbeitet?«
»Anscheinend frei, von zu Hause aus. Das ist zumindest das Letzte, was ich gehört habe.«
»Sobald ich dazu komme, will ich noch mal mit ihr reden.«
»Sie haben ziemlich viel am Hals.«
»Bisher bewege ich mich nur im Kreis und habe nichts vorzuweisen außer einem toten Jungen, der seinen Eltern alles bedeutet hat.«
Es würde nichts bringen, ihm zu erklären, dass er sich keine Vorwürfe zu machen brauchte. Sie empfand ganz genauso wie er. »Wie Dodge vorhin gesagt hat – heute hat Oren noch mal einen draufgesetzt. Er spürt, dass er jetzt noch mehr unter Druck steht, so viel ist klar.«
»Das hoffe ich. Verbrecher, die unter Druck stehen, werden leichtsinnig, machen Fehler. Vermutlich wird er so schnell wie möglich den Wagen loswerden wollen, wenn er es nicht schon getan hat. Sofern er nicht irgendwo einen Ersatzwagen herumstehen hat, wird er sich einen klauen müssen. Ich werde die Anzeigen von gestohlenen Fahrzeugen im Auge behalten. Und die öffentlichen Verkehrsmittel. Aber vielleicht«, fügte er mit einem grimmigen Lächeln hinzu, »haben wir ja Glück, und der Toyota gerät in den nächsten fünf Minuten in eine Straßenkontrolle der Highwaypolizei, die ihn hopsnimmt.«
»Darauf würde ich lieber nicht wetten.«
»Ich auch nicht.«
Sie musterte einen Moment lang sein Profil und bemerkte seine müden Züge. »Dieser Fall beschert Ihnen eine Menge Überstunden.«
»Das gehört nun mal zu meinem Job.«
»Und was sagt Ihre Frau dazu?«
Er wandte den Kopf und sah sie an.
»Ich frage nur, weil Sie seit meinem Notruf vorgestern Abend anscheinend pausenlos im Dienst waren.«
»Ich werde wohl erst wieder nach Hause
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