Blitz: Die Chroniken von Hara 2
verströmt, dass mir die Zähne klappern.
Im vereisten Boden haben sich vereinzelte Grashalme durch den Stein gebrochen. Sie gleichen sprödem Glas. Sobald ich auf sie trete, zerfallen sie leise klirrend zu unzähligen Eiskristallen.
Links und rechts von mir ragen Feuerwände auf. Ich gehe an ihnen entlang, bis ich die erste Kreuzung erreiche. Eine Weile grüble ich, ob ich abbiegen soll, setze meinen Weg dann aber unverändert fort. Wie es aussieht, befinde ich mich in einem Labyrinth. Ich ignoriere weiterhin alle Abzweigungen, bis ich nach einer Viertelstunde in einer Sackgasse feststecke. Nachdem ich zur letzten Weggabelung zurückgegangen bin, biege ich nach links ab. Leider kann ich mich nicht an den Sternen orientieren, denn sie sind genauso wahnsinnig wie diese Welt und führen einen trunkenen Reigen am Himmel auf, in den sie auch den Vollmond einbeziehen.
Die Eisflamme lodert weiter, schließlich verirre ich mich unwiderruflich. Nie wieder würde ich den Weg zurück finden. Mir bleibt nichts, als weiterzugehen und zu beten, diesen Ort irgendwann hinter mir zu lassen.
Mit einem Mal zieht sich das Feuer zurück. Vor mir liegt eine kleine Anhöhe. Auch eine alte Kastanie sehe ich. Der knorrige Stamm ist gespalten, viele Zweige sind verdorrt. Mein Blick saugt sich an den wenigen Blättern fest. Dergleichen habe ich noch nie gesehen. Breite, funkelnde, eisig-feurige, zauberische Blätter, die im Wind hin und her schaukeln und klirren, genau wie die kleinen silbrigen Glocken im Haar der Hochwohlgeborenen.
Eine Alte – ohne Frage die Verdammte Lepra – sitzt reglos gegen den Baum gelehnt da. Ihr Gesicht ist aufgeschwemmt, gelblich und entstellt. Der weinende Shen hält die Tote bei den Händen.
Hinter dem Baum tritt ein Mann mit einer Armbrust hervor, in dem ich mich wiedererkenne.
»Verzeih mir, mein Junge«, sagt derjenige, der ich bin.
Die Waffe klickt. Der Bolzen dringt in Shens Herz ein, der schreit auf und …
Ich stehe mitten in einer schwarzen, verbrannten und windigen Ebene. Schwere Flocken bitter riechender Asche hängen in der Luft. Sie kratzen in der Kehle und brennen in den Augen. Über den Himmel ziehen schmutzig rote Wolken, in denen hier und da purpurrote Blitze zucken.
Ein Mann in verdreckter Kleidung kriecht auf allen vieren über den Boden. Mit einem spitzen Stock zeichnet er etwas in die dicke Schicht fettiger Asche. Plötzlich blickt er auf und sieht mich mit geröteten, tränenverschleierten Augen an. Giss.
»Warum bist du nicht bei der Verdammten? Das hatten wir doch ausgemacht!«, herrscht er mich an. »Verschwinde sofort von hier!«
Die Erde bebt leicht, dann kracht es hinter mir so laut, dass ich auf die Knie falle und den Kopf mit den Armen schütze. Es dröhnt mir in den Ohren, um mich herum donnert es, als hätte das Reich der Tiefe ein Tor in diese Welt geöffnet. Über der Ebene ertönt ein markerschütternder, wütender Schrei. Ich drehe mich um und …
Ich presse mich fest gegen die kalte, raue Felswand. Hände und Füße habe ich in Spalten verankert, von denen es hier jede Menge gibt. Sie dienen gewissermaßen als Stufen für alle Wahnsinnigen, die den Weg abkürzen und nicht den Pass nehmen wollen. Der Boden liegt tief unter mir. Im Westen und im Osten schimmern die schneebedeckten Gipfel der Buchsbaumberge.
Auf ein Rascheln hin lege ich den Kopf in den Nacken.
Ein wenig rechts von mir klettert ein Hochwohlgeborener ebenfalls die Felswand herunter, ist aber noch nicht so weit gekommen wie ich. Er ist nicht sehr groß, hat goldblondes Haar und grüne Augen. Das hohlwangige Gesicht glänzt vor Schweiß, die Lippen hat er fest zusammengepresst. Es ist Kere aus dem Haus des Lotos, mit dem mich das Schicksal in den letzten Tagen des Krieges zusammengeführt hat. Wir haben uns bis aufs Blut bekämpft und sind sozusagen als herzensgute Freunde voneinander geschieden, als sich unsere Wege trennten und seiner ins Reich der Tiefe führte.
Die Hand des Spitzohrs rutscht ab, es verliert den Halt und stürzt in die Tiefe, ohne einen Laut von sich zu geben. Ich unterlasse jeden Versuch, ihm zu helfen. Der Elf hätte mich fraglos mit sich gerissen.
Er segelt langsam wie eine Schwanenfeder nach unten. Ich folge ihm mit dem Blick, bis ein seltsamer Nebel aufzieht. Als dieser sich wieder lichtet, fällt anstelle von Kere Lahen in den Abgrund. Ich schreie und …
… erwachte.
Lahen schlief ruhig neben mir, eine Hand unter die Wange geschoben, die andere auf mich gebettet.
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