Blitz: Die Chroniken von Hara 2

den nächsten Sekunden maßen sich die beiden mit Blicken. Shen strich als Erster die Segel. Mein Augenstern lächelte und sagte mit honigsüßer Stimme: »Wenn du mich fragst, hast du einfach Angst, mein Junge.«
    »Hab ich nicht«, knurrte er.
    »Du musst es ja wissen. Hauptsache, du bereust nicht irgendwann, deine Bitte nicht vorgetragen zu haben.« Daraufhin schnappte sich Lahen eine der Armbrüste und schlug als Erste den Pfad nach oben ein. Ich folgte ihr, Shen bildete den Abschluss.
    Während ich ein altes Soldatenlied aus den Tagen des Krieges im Sandoner Wald leise vor mich hin pfiff, sah ich nach unten. Der Pfad war jetzt so schmal, dass er mir alle Aufmerksamkeit abverlangte. Abgesehen davon sengte die Sonne, und wir wünschten schon bald, früher aufgebrochen zu sein. Mein Hemd war bereits völlig durchgeschwitzt und klebte mir im Rücken. Irgendwann gab ich auch mein Liedchen auf, um keine Atemluft zu vergeuden. Vor uns lag noch eine nette Kraxelei … Immerhin tröstete ich mich mit dem Gedanken, dass es den Sündern im Reich der Tiefe wesentlich schlechter erging als mir inmitten dieser Felsen.
    »Bilde mich aus, Lahen!«, riss mich Shen aus meinen Überlegungen.
    Mein Augenstern drehte sich um und sah ihn völlig verständnislos an. Allerdings wollte ihr Gesichtsausdruck nicht sonderlich gut zu dem triumphierenden Leuchten in ihren Augen passen. Shen ahnte jedoch noch nicht einmal, dass er ihr aufgesessen war.
    »Und worin soll ich dich ausbilden?«, fragte sie scheinheilig.
    »Darin, den dunklen Funken zu beherrschen.«
    »So, so«, sagte sie nach längerem Schweigen. »Woher kommt dieser jähe Gesinnungswandel? Noch gestern hast du keinen Schritt ohne die Erlaubnis des Turms machen können. Und der würde diese … höchst merkwürdige Bitte doch mit Sicherheit nicht billigen. Warum also? Weshalb soll ich dich nun doch ausbilden?«
    »Weil ich es satthabe!«, fuhr er aus der Haut. »Ich will nicht länger für alle der Versager sein. Mir hängt es zum Hals raus, die Bibliotheken zu durchforsten, Bücher zu studieren – und trotzdem nie das zu finden, was einen vollwertigen Magier aus mir machen würde! Ich habe es satt, auf der Stelle zu treten! Nie zu wissen, ob es mir glückt, meinen Funken anzurufen und ihn am Lodern zu halten! Aber vor allem habe ich es satt, mich so schutzlos zu fühlen! Hilflos! Verletzlich!« Er atmete einmal tief durch. »Also – bildest du mich aus?«, fragte er leise.
    »Hast du eigentlich auch nur eine annähernde Vorstellung, worum du mich da bittest?«, erwiderte sie. »Und hast du wenigstens einmal darüber nachgedacht, wohin es dich führt?«
    »In letzter Zeit denke ich ständig über mich und meinen Funken nach, nur hat mich
das
nirgendwohin geführt«, knurrte er. »Wenn ich nicht auf ewig das Gespött des Turms sein will, muss ich etwas unternehmen.«
    »Meinst du nicht, es wäre besser, das Gespött des Turms zu bleiben als zu einem Toten zu werden? Denn die Schreitenden werden die Natur deiner neuen Gabe spüren, der Turm achtet im Unterschied zu den Zeiten des Skulptors mittlerweile ganz genau auf dunkle Funken. Eins jedoch hat sich nicht geändert: Damals wie heute würde er nicht viel Federlesens mit dir machen und dich als Abtrünnigen, Verräter und gefährliches Tier töten.«
    »Bildest du mich aus?«, fragte er noch einmal.
    »Du bist wie ein Vogel aus den südlichen Ländern!«, sagte Lahen. »Ich bin keine Heilerin, Shen. Ich verfüge längst nicht über das Wissen, das für deine Ausbildung nötig ist. Bei einer einfachen Schreitenden sähe die Sache anders aus, da könnte ich sicher helfen. Aber bei dir? Damit aus dir sozusagen ein neuer Skulptor wird, brauchst du das Wissen von Talki beziehungsweise der Verdammten Lepra, wie sie meist genannt wird. Und selbst bei ihr wäre ich mir nicht sicher, dass sie dir weiterhelfen könnte, immerhin bist du ein Mann. Und mit euch Männern«, sie zwinkerte mir lächelnd zu, »gibt es immer einen Haufen Probleme.«
    »Also muss ich mich entweder der Verdammten Lepra anvertrauen oder alle Hoffnung fahren lassen?«, fragte er mit zitternder Stimme.
    »Das habe ich nicht gesagt. Ich habe dich nur daran erinnert, dass ich keine Heilerin bin und dich folglich nicht in der Heilkunst unterweisen kann. Auch könnte ich dir keinen der Zauber beibringen, die ausschließlich bei deiner seltenen Gabe möglich sind. Aber ich kann dich lehren, über den dunklen Funken zu gebieten und dir die wesentlichen Zauber der