Blitz: Die Chroniken von Hara 2
alles so gekommen? Welchen Fehler haben wir gemacht? Wo haben wir uns geirrt? Was ist aus uns geworden?«
Erneut erklang nun das höfliche Räuspern – und prompt kochte Wut in ihr hoch. Wut auf denjenigen, der sie behelligte. Am liebsten hätte sie den Störenfried umgebracht. Ihm den Schädel eingeschlagen. Schmerz zugefügt.
»Was ist?!«, brüllte sie und drehte sich um. In ihren Augen loderte ein derart abgrundtiefer Ingrimm, dass der Shej-sa’n verängstigt ein Yard zurückflog und eine tiefe Verbeugung vornahm.
»Verzeiht mir, Herrin«, hauchte er. »Verzeiht mein ungebührliches Auftreten. Es gereicht mir zu Schimpf und Schande, dass ich Euch aus Euren Überlegungen reiße, aber al-un Farid lässt Euch ausrichten, Eure Befehle seien weitgehend ausgeführt.«
Thia atmete ein paarmal tief durch und ballte wiederholt die Hände zur Faust. Der blutrote Schleier des Zorns, der sich ihr jäh vor die Augen gelegt hatte, verflüchtigte sich zusammen mit dem Wunsch, diesen unschuldigen Boten in Stücke zu reißen.
»Gut. Du kannst gehen. Ich komme gleich«, brachte sie heraus und wartete ab, bis sich der Shej-sa’n eilig zurückgezogen hatte, um sich aufs Fensterbrett zu setzen, die Füße anzuziehen, die Knie zu umfassen und noch einmal auf die Bäume zu stieren.
Seit jenem Tag, da ihr dieser verfluchte blonde Bogenschütze den Körper genommen hatte, geschah etwas mit ihr, das sie beunruhigte. Früher hatte sie sich stets mühelos beherrschen können. Jetzt dagegen wusste sie oft genug nicht, was einen Wutanfall bei ihr auslöste und ob sie ihren Zorn zu unterdrücken vermochte. Ohne auf die Regentropfen zu achten, die ihr ins Gesicht und aufs Hemd fielen, blickte sie müde zu den tief hängenden grauen Wolken hinauf. Dieses Haus, dieser Garten würden sie am Ende noch in das verwandeln, vor dem sie jahrelang davongelaufen war: in einen lebendigen Menschen, den wieder ein Gewissen quälte. Und der immer noch darunter litt, dass sich sein Leben nicht in der geplanten Weise erfüllt hatte, sondern von Grabwürmern gefressen worden war.
Das Schwarze Haus war in der Tat ein verfluchter Ort. Jeder Saal, jedes Zimmer, jeder Baum stellte eine lichte Erinnerung dar, die sie zum Weinen brachten und den Wunsch in ihr aufsteigen ließen, den Kopf gegen die Wand zu rammen. Nur um nicht daran zu denken, dass alles – alles! –, was sie in den vergangenen fünf Jahrhunderten getan hatte, in einer Sackgasse geendet war.
Ob die anderen auch von solchen Zweifeln heimgesucht wurden?, fragte sie sich.
Rowan hatte sich nur aus Liebe zu seinem Bruder auf den Aufstand eingelassen. Und um den alten Gänsen im Turm die Suppe zu versalzen. Leys Motive hatte nie jemand verstanden, die Seele des Nordländers blieb allen ein Rätsel. Er war Tsherkanas Glimmender gewesen und ging für sie, wenn nötig, durchs Feuer. Als es zum Aufstand gekommen war, hatte er ohne zu zögern alle vernichtet, die es wagten, sich seiner Herrin in den Weg zu stellen. Selbst seine ehemaligen Schüler. Was hatte ihn dann aber nach Tsherkanas Tod bewegt, bei ihnen zu bleiben? Rachedurst? Pflichtgefühl? Ein Versprechen? Oder die Gleichgültigkeit gegenüber allem und jedem, das eigene Schicksal inbegriffen? Thia wusste es nicht. Auch über Mithipha ließ sich kaum etwas Klares sagen. Sie tat immer, was Talki verlangte. Widerspruchslos.
Rethar und Ghinorha waren tot. Damit lebten heute nur noch zwei, die der Magie unbedingt zu neuer Blüte verhelfen wollten: Alenari und Talki. Sie allein trachteten danach, die Kunst auf eine neue Stufe zu stellen und zu verhindern, dass die Gabe für immer aus ihrer Welt entwich. Sie allein wollten denjenigen, die den Funken in sich trugen, wahre Magie schenken.
Rethar hatte aufrichtig an ihre Sache geglaubt, daran, dass sie die Welt auf einen besseren Weg bringen würden. Dass sie ein neues Zeitalter einleiteten, in dem die Möglichkeiten der Magierinnen und Magier unbegrenzt wären. Und er hatte die Fähigkeit besessen, alle um sich herum mit diesem Glauben anzustecken. Auch sie. Abgesehen davon liebte sie ihn. Sie konnte gar nicht anders, als das Schicksal einer Verdammten zu wählen. Das hätte sie in jedem Fall getan, auch wenn sie Soritha nicht getötet hätte. Die Schreitenden mochten glauben, allein der Mord an der Mutter habe sie auf die Seite der Verschwörer getrieben – sie wusste es besser. Gut, Soritha war nur Geschmeiß, ihr Tod bereitete Thia nicht die geringsten Gewissensbisse – aber schon
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