Blitz schickt seinen Sohn
er ihn doch aus einem Augenwinkel? Als er vorbeischoß, betrachtete Henry die Augenbinde. Kam es ihm nur so vor, oder hatte sich das Tuch tatsächlich gelockert? Vulkan stoppte und wandte sich halb herum... Henrys Atem stockte: wahrhaftig, das Tuch löste sich — gleich würde der Hengst wieder sehen können! Jetzt rannte er vorwärts, und diesmal verlor Henry das Gleichgewicht, weil er zu spät reagierte; er stürzte und wurde an den Lassos durchs Gras geschleift. Schon war er drauf und dran, die Riemen loszulassen, als er sich erinnerte, daß der Hengst jeden Moment die Augenbinde verlieren konnte. Dann würde alles zu Ende sein. Henrys Haut, abgeschürft von dem Mitgeschleiftwerden, brannte wie Feuer, als Vulkan sein Tempo beschleunigte. Wieder war der Alte im Begriff, dem Gefühl völliger Erschöpfung, das ihn überkommen hatte, nachzugeben. Da verlangsamte der Hengst seinen Lauf und schüttelte wütend den Kopf. Henry knirschte mit den Zähnen, denn diesmal würde das Pferd die Augenbinde verlieren! Er warf einen verzweifelten Blick nach dem Baum, der nur wenige Schritte von ihm entfernt stand. Mit letzter Anstrengung richtete er sich auf, kroch auf den Knien hinüber und wand langsam, allzu langsam das Ende beider Lassos um den Stamm. Kaum hatte er die Enden fest verknotet, als er die Binde von Vulkans Augen gleiten sah... Er machte keinen Versuch mehr zu fliehen; er war zu erschöpft, um wegzulaufen oder auch nur Angst zu empfinden. Er sank hinter dem Baum auf den Boden — er war geschlagen... Alec würde später sein Pferd an den Baum gefesselt finden... und ihn dahinter, vielleicht tot. Der alte Mann schickte ein Gebet zum Himmel, daß sein Opfer wenigstens nicht umsonst sein, sondern Alec zur Lehre dienen möge...
Vulkan schrie laut auf und stieg, als er der Binde ledig wurde. Im Herunterkommen suchten seine blutunterlaufenen Augen die Umgebung ab. Zuletzt spähte er in die Richtung, in der Henry hinter dem Baum zusammengesunken war. Dann trottete er, der Lassos nicht achtend, die lose hinter ihm herschleiften, auf dem Rand des die Senke begrenzenden Abhanges entlang. Bei der scharfen Biegung, an deren Fuß unten der Zaun begann, spitzte er die Ohren und ging denselben Weg zurück, um kurz vor dem Baum stehenzubleiben, als ginge in seinem Kopf etwas vor. Henry zwang sich aufzublicken, und mit verschwimmenden Augen erkannte er, was Vulkan plante. Wahrscheinlich war er im Begriff, den größten Fehler seines Lebens zu begehen: weil die Fesseln lose hingen, meinte er, er wäre frei. Und wenn er sie durch die Gewalt des Sprunges über den Zaun sprengte, würde er tatsächlich frei sein! Wenn sie aber hielten und die Schlinge um den Hals sich während des Sprunges zusammenzog, dann — würde er sich erdrosseln!
Henry machte einen schwachen Versuch, die Aufmerksamkeit des Pferdes durch einen Ruf auf sich zu lenken, brachte aber in seiner Schwäche mit den trockenen Lippen nur ein Flüstern zustande. Vulkan galoppierte wie ein schwarzes Phantom auf den Zaun zu, zog sich zum Sprung zusammen und flog mit einem gewaltigen Satz durch die Luft.
Henrys verschwollene Augen verfolgten die Riemen, die er um den Baumstamm geknotet hatte. Er sah, wie sie sich mehr und mehr strafften — sie hielten — der Baum schwankte... Jetzt durchbrach ein Krachen vom Aufschlag eines schweren Körpers auf den Boden die Morgenstille. Dann rührte sich nichts mehr. Henry, den eine Ohnmacht überkam, murmelte: »Wir haben beide das Spiel verloren... alle beide, Vulkan!«
DREIZEHNTES KAPITEL
Mit hängendem Kopf
Alec warf sich unruhig in seinem Bett hin und her. Sebastian, der neben ihm schlief, seufzte und kuschelte sich dann dichter an Alecs Beine. Plötzlich fuhr der Hund auf und sah zum offnen Fenster hinüber — er hatte einen schrillen Schrei gehört. Doch dann herrschte wieder Stille, und er legte beruhigt seinen Kopf auf die Vorderpfoten. Er war gerade im Einschlafen, als der schrille Schrei in der Ferne abermals ertönte. Der Hund sprang vom Bett, lief leise winselnd zum Fenster, legte die Vorderpfoten aufs Fensterbrett und spähte hinaus. Wieder vernahm er den schrillen Schrei. Daraufhin lief Sebastian bellend zum Bett zurück und stieß die Nase gegen Alecs über den Bettrand hängende Hand. Alec öffnete die Augen, lächelte und streichelte den Kopf des Hundes. Dann sah er, daß er sein Bett völlig zerwühlt hatte und daß das Deckbett zur Erde herunterhing. Sein Gesicht verdüsterte sich, denn jetzt fiel ihm ein,
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