Blondes Gift
verschlafenen Geschäftsreisenden zu treffen. Kowalski zog die Jacke aus und ging mit dem Heimatschutz-Ausweis in der Hand zurück zu 702. Die Augen des Bullen sprachen eine deutliche Sprache: Oh, Jesus, eines von diesen Arschlöchern. Man brachte ihn zum zuständigen Lieutenant, der ihn fragte: »Kann ich Ihnen helfen?«
»Nicht wirklich.«
»Wenn Sie irgendwas brauchen, fragen Sie. Haben Sie sich unten gemeldet?«
Kowalski antwortete nicht. Stattdessen spazierte er mit einem gelangweilten Gesichtsausdruck durchs Zimmer und hielt Ausschau nach dem Gepäck – den Taschen von Kelly White und Jack Eisley. Sie befanden sich bereits in versiegelten Plastiktüten und standen neben der Eingangstür. Kowalski wartete einen günstigen Moment ab, dann packte er in aller Seelenruhe die beiden Taschen und brachte sie ins andere Zimmer. Dort schlüpfte er wieder in die Kellnerjacke, griff sich eines der größeren Gepäckstücke vom Wagen und leerte es aus. Er befreite die Taschen von Kelly und Jack von dem Plastik, das er in irgendeine Hose stopfte, und verstaute sie in dem übergroßen, dunkelgrünen Gepäckstück. Das warf er auf den Wagen und schob ihn nach draußen, Richtung Aufzüge. Einer der Polizisten blickte kurz auf, sagte aber nichts. Selbst wenn sie bemerkten, dass die Tüten mit den Beweisen fehlten, würden sie davon ausgehen, dass sie einer von ihnen nach unten gebracht
hatte. Es ging um einen Überfall, nicht um Mord. Jedenfalls noch nicht.
Kowalski fand ein leeres Zimmer auf der Fünften – hier kannte er sich immerhin ein wenig aus -, holte die zwei Taschen aus dem Gepäckstück und legte sie auf eines der Doppelbetten. Dann fing er an, mit seiner gesunden Hand darin herumzuwühlen.
Der Inhalt von Kellys Tasche war nicht besonders aufregend, abgesehen von einer Flasche mit Kontaktlinsenflüssigkeit, in Alufolie gewickelten Magentabletten und einem Röhrchen für Kopfschmerztabletten, das in Wirklichkeit voller Tabletten war, die einen vom Alkoholkonsum abhalten sollten. Hatte die Lady etwa ein kleines Alkoholproblem? Außerdem waren da: Eine wahllose Zusammenstellung von Kleidungsstücken und eine erstaunliche Anzahl dieser kleinen, weißen Plastikdinger, mit denen Geschäfte ihre Preisschilder an den Kleidungsstücken befestigten. Sie waren in der Hälfte durchgeschnitten und über den ganzen Boden der Tasche verteilt. Kelly White war entweder viel einkaufen gewesen oder hatte eine Menge geklaut.
Er nahm einen BH und hielt ihn sich unter die Nase. Er merkte zunächst gar nicht, was er da tat, bis er schon daran gerochen hatte.
Dasselbe hatte er getan, als die Polizei ihm Katies Tasche gebracht hatte; die, die sie im Hotel am Rittenhouse Square gefunden hatten, wo sie sich zeitweise mit ihrem Bruder – dem Bankräuber – verkrochen hatte. Er hatte jedes verbliebene Molekül von ihr einatmen wollen.
Er hatte viel Zeit mit der Tasche verbracht.
Kowalski legte Kelly Whites BH zurück und fühlte sich irgendwie schuldig. Falls sie tot war, blickte sie dann vielleicht auf ihn herab? Und tat das womöglich auch Katie?
Dabei interessierte ihn Kellys Tasche gar nicht. Sondern Jacks. Wenn er rausfinden wollte, was der CI-6 mit Kelly vorhatte – seine Verbindungsoffizierin würde ihm das auf keinen Fall sagen -, dann musste er ihren Begleiter finden: Jack.
Bisher hatte er noch jeden Auftrag zu Ende gebracht.
Und das Verhalten seiner Verbindungsoffizierin war wirklich beunruhigend.
Waren sie hinter seine außerberuflichen Aktivitäten gekommen? Seinen privaten Feldzug gegen den Ableger der Cosa Nostra in Philadelphia?
Und trafen sie Anstalten, ihn dafür zu bestrafen?
Die Antworten auf diese Fragen waren womöglich seine einzige Chance, sich zu verteidigen.
3:32 Uhr
Der Hot Spot, Nähe Third und Spring Garden
D er Raum war erstaunlich klein, eher eine Art Vorraum. Was sofort ins Auge fiel, waren die verschiedenen
Eingänge mit Vorhängen, die vermutlich in andere Zimmer führten. Es hätte genauso gut der erste Stock einer Lagerhalle sein können, abgesehen von der kleinen Bar, den mit Plastik bezogenen Hockern und den dunkelroten Samtbahnen, die von der Decke hingen. Der Geruch von brennenden Kerzen – pures Wachs ohne Parfüm – hing in der Luft. Bevor Jack Gelegenheit hatte, mehr in Erfahrung zu bringen, war der Fahrer bereits durch eine der Türen verschwunden.
Glücklicherweise war der Raum nicht sehr groß und voller Menschen. Es war halb vier Uhr morgens an einem normalen Werktag, oder?
Weitere Kostenlose Bücher