Blood Target: Thriller (German Edition)
Ein sehr tapferer Junge, wie seine Mutter ihm immer wieder sagte. Obwohl er gar nicht so genau wusste, wieso eigentlich. Die Schule war ja schließlich nichts, wovor man Angst haben musste. Die Schule machte Spaß. In den Pausen, wenn er mit den anderen Kindern spielen konnte, machte sie sogar viel Spaß, aber im Unterricht auch. Nicht nur dann, wenn er ein Bild malen durfte. Aber Bilder malen war das Beste.
Jeden Tag lernte er neue Wörter und wie man sie buchstabierte und aufschrieb. Jeden Nachmittag erzählte er seiner Mutter von den neuen Wörtern, und jedes Mal war sie sehr beeindruckt davon, wie klug er war. Er war klug. Er kannte mehr Wörter als alle anderen in seiner Klasse, und auch im Einmaleins kannte er sich am besten aus. Ein paar seiner Klassenkameraden zogen Grimassen, wenn er wieder einmal den Arm in die Luft reckte, weil er die Antwort auf eine Frage kannte. Er verstand nur nicht, wieso sie das taten.
Die letzte Stunde war fast schon zu Ende. Peter saß auf seinem Stuhl, die gepackte Tasche vor sich auf dem Tisch, so wie alle anderen auch. Sie warteten darauf, dass die Uhr endlich auf drei Uhr sprang. Dann war die Schule aus, und alle würden zum Klassenzimmer hinaus und den Flur entlang und durch die große Tür ins Freie rennen.
Als die Lehrerin dann endlich sagte, dass sie gehen durften, sprangen alle Kinder auf. Peter aber machte extra langsam, weil sein Tisch nämlich direkt neben der Tür stand, aber der von Eloise ganz hinten. Einmal hatten sie in der Mittagspause Händchen gehalten – ohne ein Wort zu sagen –, aber dann war es Peter irgendwann langweilig geworden, und er war Fußball spielen gegangen. Anschließend hatten Eloises Freundinnen zu ihm gesagt, dass sie nicht mehr mit ihm gehen wollte. Er wusste gar nicht, dass sie zusammen gegangen waren. Er wusste nicht einmal, was das heißen sollte. Er wusste nur, dass Eloise ihn keines Blickes mehr würdigte und sogar ihren Platz in der Schlange vor der Cafeteria verließ und sich hinten wieder anstellte, wenn er versuchte, mit ihren Haaren zu spielen.
Die anderen Kinder sausten hinaus. Gemächlich schlüpfte Peter in seine Jacke, gemächlich schlang er sich den Ranzen über die Schulter, gemächlich stellte er seinen Stuhl auf den Tisch – warum mussten sie das eigentlich machen? –, und gemächlich machte er sich auf den Weg zur Tür.
Eloise und ihre Freundinnen sausten an ihm vorüber, und dann war er ganz allein mit der Lehrerin.
Er spürte, wie Se ñ ora Fuentes ihm auf die Schulter klopfte, und hörte sie sagen: »Vielleicht hast du nächstes Mal mehr Glück.«
Er wusste nicht, was sie meinte.
Draußen schien die Sonne. Lucille Defraine wartete auf ihren Sohn. Hoffentlich hatte er die Jacke angezogen, so, wie sie es ihm gesagt hatte. Er behauptete, dass er keine brauchte, weil einige seiner Freunde auch keine brauchten und er langsam in das Alter kam, wo die anderen wichtiger wurden als warme Kleider. Sie stand mit den anderen Eltern draußen auf dem Bürgersteig, dort, wo sie immer stand. Als sie Peter sah, lächelte sie, und er erwiderte ihr Lächeln. Er kam zu ihr gehüpft, und sie zog ihn dicht an sich.
»Aua« , sagte er. »Du zerquetschst mich ja.«
Sie küsste ihn auf den Scheitel. »Sei nicht albern!«
»Selber albern.«
»Gibt es einen bestimmten Grund, dass du deine Jacke nicht anhast?«
Er wandte sich ab, als würde sie es vergessen, wenn er sie nicht ansah. Stattdessen sagte er: »Heute haben wir viele neue Wörter gelernt.«
»Das ist toll, Schätzchen«, sagte sie und musste ein Lächeln unterdrücken. »Ich bin schon ganz gespannt. Du kannst mir ja auf dem Weg zum Park davon erzählen. Aber zuerst ziehst du deine Jacke an.«
Peter ließ die Jacke, die Krawatte und den Schulranzen bei seiner Mutter liegen und rannte zum Klettergerüst. Es war ziemlich groß und bunt angemalt. Peter kletterte richtig gerne bis ganz nach oben. Das machten längst nicht alle Kinder in seinem Alter. Sie hatten Angst. Er wusste gar nicht, wovor eigentlich. Er war schon zweimal vom Klettergerüst gefallen. Einmal hatte er sich die Knie und die Ellbogen aufgeschürft, das andere Mal den Knöchel verstaucht. Jedes Mal hatte er geweint, und dann noch mal, als seine Mutter die Wunden mit einer brennenden Flüssigkeit sauber gemacht hatte. Aber das hielt ihn nicht davon ab, immer wieder zu klettern. Er wusste gar nicht mehr, wie der Schmerz sich angefühlt hatte. Von ganz oben war er noch nie heruntergefallen, aber jetzt war er
Weitere Kostenlose Bücher