Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)
Finanzierungen und Initiativen und staatliche Stellen und was es da sonst noch alles gibt, nur einen Teil der Lösung ausmachen. Der andere Teil
ist, dass ALLE endlich kapieren, dass behinderte Menschen kein Fremdkörper in Büros, Fabriken, Werkstätten, Unis, Geschäften oder Redaktionen sind. In ihnen steckt genauso viel Potenzial wie in jedem nicht-behinderten Menschen. Auch sie haben das Können, einen starken Willen und spezielle Begabungen, die nicht verschleudert werden dürfen in irgendwelchen öden Maßnahmen und Umschulungen, die den jeweiligen Interessen der Leute überhaupt nicht entsprechen. Es muss viel mehr Raum für Individualität geben: Der Mann hat keine Beine mehr, okay, aber was hat er sonst so drauf? Was kann er besonders gut? Was langweilt ihn? In welchen Bereichen kann er wirklich gute Arbeit leisten? Und nicht: Ah ja, Sie sind behindert. Da gibt’s eine Umschulung zu ... na, schauen wir mal ... aha, zum Bauzeichner. Na prima, das können Sie machen. Wie, Sie möchten lieber was Kreatives machen? Na, also jetzt werden Sie aber mal nicht zu anspruchsvoll ...
Für mich lag die Lösung darin, selbst noch aktiver zu werden, denn von Seiten des Amtes und den langsam mahlenden Mühlen der Bürokratie konnte ich nichts erwarten. In meiner Ungeduld fuhr ich eines Nachmittags mit dem Auto die idyllische Bergstraße entlang und sah in einer Senke ein Fachgeschäft. Rehability Reha-Fachhandel stand dort geschrieben. Ich nahm das als Zeichen, machte Halt und betrat den Laden, um zu fragen, ob mich vielleicht hier jemand zum Orthopädiemechaniker ausbilden könnte. Schon nach wenigen Worten war klar, dass sie erst einmal keinen Ausbildungsplatz für mich hatten, aber genügend Arbeit und Perspektiven für eine Zukunft. Ich hatte also den ersten, wichtigen Schritt mit Mut und Spontaneität geschafft. Wie es ohne diese Eigenschaften gelaufen wäre, habe ich dann im Laufe der Jahre am Beispiel anderer Rollstuhlfahrer erfahren.
Da ging es wegen Schwervermittelbarkeit gleich in Richtung Rente, ohne im Vorfeld noch einmal die Luft des Arbeitslebens geschnuppert zu haben. Es wurden keine großen Anstalten gemacht, den Menschen genauer zu betrachten. Der war behindert und wurde dann schnell zum Rentner und war somit aus der Gefahrenzone und der Statistik verschwunden.
Sicher stehen wir in Deutschland bei diesen Themen besser da, als wir es in Ländern wie Rumänien, Bulgarien oder anderen weniger entwickelten Ländern in Europa und weltweit erleben. Mich hat es interessiert zu schauen, wie die Situation in Europa eigentlich heute aussieht. Auch da gibt es ganz gute Entwicklungen, die, wie ich finde, in die richtige Richtung gehen. In Europa haben sich Arbeitsgemeinschaften aus 19 verschiedenen Ländern mit dem Ziel zusammengetan, dass behinderte Menschen wirklich ankommen im »normalen« Arbeitsmarkt. Bei uns ist das die Bundesarbeitsgemeinschaft für unterstützte Beschäftigung , die Mitglied im Europäischen Dachverband für unterstützte Beschäftigung ist. Alle nationalen Arbeitsgemeinschaften sind darin organisiert. Wenn man da mal ein bisschen im Internet herumspaziert, kann man sehen, wie die arbeiten, und auch vergleichen, wie die Standards der einzelnen Länder sind. Außer Deutschland, der Schweiz und Österreich sind auch die skandinavischen Länder und Finnland darin, außerdem England, Griechenland, Irland, Island, Italien, die Niederlande, Nordirland, Portugal, Schottland, Spanien, Wales und – als erstes und bisher einziges Land aus dem östlichen Europa – Tschechien. Frankreich, hört, hört, ist nicht dabei. So, und was machen diese Arbeitsgemeinschaften nun Schönes? Sie wollen national und international dafür sorgen, dass die Qualitätsstandards bei der »unterstützten
Beschäftigung« ständig angeglichen und verbessert werden. Dass Betriebe und Unternehmen informiert und in die Arbeit eingebunden werden. Dass die Ziele der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen umgesetzt werden. Dass schon in den Schulen darauf hingearbeitet wird, dass Menschen mit Handicap als gleichwertige Arbeitnehmer gesehen werden. Der europäische Dachverband sorgt auch dafür, dass Mitglieder aus den nationalen Arbeitsgemeinschaften in die anderen Länder reisen können, um sich dort zu informieren und auszutauschen. Das macht Sinn!
Klar stellt auch dieser Europäische Dachverband fest: In den Ländern Europas gibt es ganz unterschiedliche Ansätze, Rahmenbedingungen, Finanzierungsmodelle
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