Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)
und so weiter. Und vor allem hat jedes Land seine eigene politisch-gesellschaftliche Sicht auf die Integration. Manche Länder – darunter die so oft beispielhaften skandinavischen – nehmen sie sehr ernst und entwickeln vorbildliche Modelle und Initiativen. Andere sind da noch ziemlich am Anfang und haben statistisch weniger glänzende Werte. Deutschland und Finnland stehen zum Beispiel in Europa sehr gut da, wenn es um ihre Bemühungen geht, Fachkräfte aus den Bundesarbeitsgemeinschaften für unterstützte Beschäftigung aus- und weiterzubilden.
Die Arbeit dieses europaweiten Dachverbands hat auch durchaus Auswirkungen. Da wird also nicht nur für die Ablage-Schublade gearbeitet. 2005 wurden einheitliche europäische Qualitätsstandards für unterstützte Beschäftigung in einem Handbuch veröffentlicht; zwei Jahre später wurde dieses auch in Deutschland veröffentlicht und ist seitdem in manche deutsche Gesetze eingeflossen.
Es ist also schon so, dass vieles passiert. Aber ich kann es gar nicht oft genug betonen: All diese Möglichkeiten müssen auch von Menschen mit Hirn, Herz und mit ihrem ganzen Engagement ausgeschöpft werden! Wenn ein Chef nun mal keinen Rollifahrer in seinem Betrieb haben will, weil er glaubt, der würde seinen Betrieb unproduktiver machen als einer, der auf zwei Beinen läuft, dann nützen die tollsten politischen Ansätze nichts. Menschen müssen beispielhaft vorne weg gehen und zeigen: Schaut her, in meinem Unternehmen arbeiten so und so viele Rollifahrer, mehrere Sehbehinderte, und dann gibt’s da noch den, der nicht hören kann, und die andere, die nur einen Arm hat, und einige so genannte »geistig Behinderte« sind bei uns auch im Boot. Erst wenn so etwas als »normal« angesehen wird, sind wir bei echter Inklusion angekommen.
Kommen wir aber zurück zu dem Moment, als ich bei Rehability einsteigen konnte. Nachdem ich dieses Zwischenziel erreicht hatte, startete eine neue und tolle Phase in meinem Leben. Ich war willkommen und wurde herzlich begrüßt.
Mein erster Job war »Mädchen für alles«. Ich war mir für nichts zu schade. Ich schraubte in der Werkstatt an Rollstühlen und Fahrrädern herum, kümmerte mich um den Postversand im Büro, machte die Ablage und fuhr Hilfsmittel an Kunden aus. Das war für mich natürlich besonders cool, weil ich alle umgebauten Firmenautos fahren konnte und somit lernte, mit jedem Handgerät und mit jeder Art von Umbau zu fahren. Jetzt ging das Lernen schon richtig los. Genau auf der Ebene, die mich angesprochen hat: eine Mischung aus Theorie und Praxis, statt nur rumzuhocken und dem Geschwafel des Lehrers zu lauschen. Ich war, wie es meinem Naturell entspricht, am liebsten im Außendienst unterwegs, wo ich Kundenkontakt hatte und einen Großteil des Tages Auto fahren konnte, gerne
auch mal mit einem kleinen Umweg, um des Fahrens Willen. Man gab mir eine Chance, und ich nutzte sie. Diese Chance ermöglichte mir, erst einmal einen Eindruck zu gewinnen, mich einzugrooven und zuzugreifen, als man mir tatsächlich eine Ausbildung im kaufmännischen Bereich anbot. Am 01.09.1996 ging es dann los. Ich war stark eingebunden, sehr glücklich und ein paar Euro gab es obendrein. Es war zwar wenig, aber ich war in einer Ausbildung, die mich insgesamt erfüllte, angekommen.
Zu den vielen Bewerbungsabsagen war es sicher auch deswegen gekommen, weil ich im Rollstuhl saß. Ich bin schwerbehindert, und so wird es für den Arbeitgeber erst einmal unattraktiv, mich einzustellen. Ich bekam nicht einmal die Chance, mich irgendwo persönlich vorzustellen. Zu zeigen, dass mich neben meinen fehlenden Füßen auch noch andere Besonderheiten auszeichnen.
Es gibt Unternehmen, die sich vorbildlich um behinderte Mitarbeiter bemühen. Das sind oft große Unternehmen, die ein richtiges »Diversity Management« haben, also eine extra Abteilung (innerhalb der Personalabteilung), die sich darum kümmert, Vielfalt (englisch: Diversity) optimal in der Berufswelt einzusetzen und sie für den Unternehmenserfolg zu nutzen. Da geht es also nicht nur darum, einfach nur Menschen zu integrieren, sondern auch die spezielle Eigenart des jeweiligen Mitarbeiters so gut eingepasst wie möglich in die Abläufe zu integrieren. Positive Wertschätzung spielt dabei eine große Rolle.
Zu »Diversity« kann man inzwischen viel Spannendes lesen und erfahren, dass sich auf diesem Gebiet einiges tut. Da gibt es zum Beispiel die Internet-Plattform idm-diversity.org ,
auf der sich
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