Blütenrausch (German Edition)
mehr von meiner Tochter zu haben. Tage vor der Hochzeit bekam ich sie kaum noch zu Gesicht. Sie war entweder in ihrem Büro oder mit Ihnen unterwegs. Wenn ich ihre letzten Stunden durchlebe, kann ich ihr vielleicht etwas näher sein. Wissen Sie, im Moment fühle ich nur eine Leere, die Tag für Tag an mir nagt und es ist, als ob ich den Verstand verlöre. Ich habe Angst, ich könnte meine Tochter vergessen. Nicht so wie Sie denken. Man kann sein eigen Fleisch und Blut nicht vergessen. Aber die Gesten, die Mimik, kleine Details am Körper, ihr Lächeln. Das alles kann schneller aus dem Gedächtnis schwinden, als man denkt. Gerade in meinem Alter. Ich brauche jemanden, mit dem ich über sie reden kann. Mein Mann kann nicht. Er verarbeitet seine Trauer, indem er schweigt. Als ob man mit Schweigen den Schmerz lindern könnte. Schreien, am liebsten würde ich den ganzen Tag meine Wut und mein Aufbegehren in die Welt hinausschreien.«
Frau Pot umarmte sich selbst und schaukelte vorsichti g mit dem Oberkörper vor und zurück. Ich rückte etwas näher an sie ran, fasste die Rückseite ihrer rechten Hand an und begann sie tröstend zu streicheln. Ihr trauriger Blick wanderte zu meiner streichelnden Hand und ergriff sie dann dankend mit beiden Händen.
» Haben Sie mal überlegt, Hilfe in Anspruch zu nehmen, ich meine, jemand der Sie in diesen schwierigen Momenten professionell unterstützen kann?«
» Sie meinen einen Gehirnschrauber?«
Diesen Begriff habe ich bisher auch noch nie gehört. Wo hat sie den denn her?
Frau Pot grinste mit unschuldiger Miene und fing plötzlich an zu lachen. Ihr Lachen war ansteckend. »Lustiger Name, nicht war?«, sagte sie und ließ meine Hand los. »Den hat mein Enkel Julian erfunden. Der Sohn meines Sohnes Christian. Wissen Sie noch, der kleine Knirps, der nach der Trauung dem Brautpaar den ganzen Blumenkorb zuwarf?«
Ich erinnerte mich . Der Junge hatte wohl etwas falsch verstanden und anstatt die Rosenblüten auf das Paar zu streuen, schmiss er gleich den ganzen Korb auf sie.
»Irgendwann hörte er uns Erwachsenen zu, wie wir über Psychologen sprachen , und als er erfahren wollte, wer diese seltsamen Menschen waren, die in unser Gehirn reinschauen, da sagte er plötzlich: »Also Gehirnschrauber, gell Omi?«
» Schlaues Kerlchen«, bemerkte ich und trank einen Schluck Kaffee.
» Ja, so ist es«, nickte Frau Pot. »Zumindest bleibt mir das Glück, Oma zu sein. Wissen Sie, ich habe zwei Enkelkinder, beides Jungs. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe sie über alles, aber ich hatte gehofft, dass meine Tochter ... Nun ja, die Jungs halten mich immer auf Trab, wenn sie mich besuchen. Einmal, da spielten sie im Garten und nach einer Weile kamen sie zu mir und legten auf den sommerlich gedeckten Terrassentisch drei Regenwürmer. Die hatten sie einfach ausgebuddelt und wollten sie mir schenken. Aber so sind ja Kinder. Als ich klein war, da besuchten meine Schwester und ich einmal unsere Großtante. Obwohl wir wussten, dass sie Mäuse hasste, bauten wir im Gartenschuppen eine Mäusefalle auf, und als eine Maus reintappte, zeigten wir unserer Großtante stolz unseren Fang ...«
Ich wollte nicht unsensibel erscheinen , aber ich dachte, wenn ich die Fäden nicht schnell in die Hand nahm, konnte unsere Unterhaltung eine andere Richtung einschlagen, nämlich die der stundenlangen Erzählung von Familiengeschichten. Und wenn ich auch wusste, dass Frau Pot sehr litt und eine Person zum Reden brauchte, konnte und wollte ich diese Person nicht sein. Ich war hier, um eine Auskunft zu erhalten, und nicht, um als Ersatzpsychologin zu fungieren. Also begann ich ihr schnell zu erzählen, was ich mit ihrer Tochter in den letzten Tagen vor ihrer Hochzeit unternommen hatte. Auf diese Weise gab ich ihr einen Teil dessen, was sie brauchte, und dafür würde ich mir meinen Part holen.
Eigentlich gab es nicht viel zu erzählen. Dass Natalie mehr Zeit mit mir verbrachte, als anderen Bräute es taten, stimmte, aber trotzdem gab es nichts Außergewöhnliches zu berichten. Wir besprachen mit der Floristin die letzten Details des Blumenschmucks, besuchten die Schneiderin und ließen sie zum dritten Mal das Kleid ändern. Außerdem gingen wir ein paar Mal zum Schlosshotel und redeten mit dem Koch und der Managerin. Ich erklärte Natalie auch einiges über die bevorstehende Zeremonie. Also, nichts Unübliches. Dennoch verpackte ich meine Erzählung in ein Geschenk voller positiver Gefühlswörter, damit Frau
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